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nmz-archiv
nmz 2001/07-08 | Seite 42
50. Jahrgang | Juli/August
Jazz, Rock, Pop
Visionäre Freiheit ist geografisch ausgelagert
Originäres und Beliebiges beim 30. Internationalen New Jazz
Festival in Moers
Jacob Kirkegaard, David Shea und Frank Schulte spielen ihre Sampler
live: In Konzentration versunken berühren sie die Tasten, beinahe
vorsichtig. Es ist das Spröde und Geräuschhafte, das sich
hier zu berückenden Texturen formt im Rahmen des Electronic
Lounge Projects ensteht mit digitalisiertem akustischem Material
eine Klangfarbenmelodie, die zu den stärks-ten und gleichzeitig
fragilsten Momenten des 30. New Jazz Festivals in Moers wird.
Jazz? Improvisierte Musik war es in Reinkultur von jener
Qualität, bei der junge Schöpfergeister ihre visionäre
Freiheit ausleben, um neue eigene Spuren zu legen. Symbolisch für
den Zustand der Institution Moers im Jahre 2001 ist die geografische
Situation: Die Projekte, in denen Musiker in tagelangen Sessions
Neues ausarbeiten sind aus dem eigentlichen Festivalgelände
ausgelagert.
Ein glänzend aufgelegter
Trovesi präsentierte seine Musik im BigBand-Format
an seiner Seite der überragende Marksu Stockhausen. Foto:
Pieper
Längst ist Moers nicht mehr nur Experimentierfeld, um Neues
zu erarbeiten, sondern ein Riesen-Event im Zent- rum unterschiedlicher
Interessen. Wenn sich der Publikumsbeifall auf einen konstanten
Level bei allen Konzerten nivelliert hat, ist dem WDR für sein
Medien-Event genauso Genüge getan wie der Stadt Moers, die
sich ökonomisch über einen konstanten Publikumsdurchfluss
und überregionale Aufmerksamkeit bei erträglichem finanziellem
Einsatz freut. Dazwischen setzt der künstlerische Leiter Burkhard
Hennen mit sportlichem Ehrgeiz seine Ellenbogen gegen zu viel konzeptionelle
Fremdbestimmtheit ein. Das Festival lebt auch ohne die Präsentation
von teuren Acts, die ohnehin schon anderswo reichlich vertreten
sind. Das konkurrenzlose Kapital in Moers ist vor allem emotionaler
Natur. Wenn die Außenwelt kalt und wie in diesem Jahr
der Wettergott endgültig tot scheint, wird um die wärmenden
Feuer eben noch enger zusammengerückt, und genauso funktioniert
es auf der Bühne und im Fes-tivalzelt. Man spürt sich
gegenseitig und das macht Moers zum Selbstläufer in punkto
Stimmung. Etwa beim serbischen Boban Markovic Orkestar, dessen frenetischer
Zigeunerjazz so viel menschliche Wärme transportiert aus einem
Land, dessen Image durch jahrelange Exzesse von Hass und Gewalt
jahrelang verschlissen wurde. Oder bei der zündenden Melange
aus Funk und Hiphop eines Russell Gunn, der die genau richtige Dosierung
vorlegt und darin zudem aussagekräftige Solisten platziert.
Sich zu sehr auf vorhandene Stimmungskomponenten zu verlassen erzeugt
jedoch Beliebigkeit, und die war in diesem Jahr manchmal rekordverdächtig:
In ideenarmen und belanglosen Weltmusik-Klischees blieben die Soul
Brothers und weitere Aufgüsse der schon längst überstrapazierten
Cuba-Welle stecken. Noch mehr enttäuschte David
Murray mit dem World Saxophone Quartett und afrikanischen Gastmusikern.
Bei dieser Besetzung wäre es Pflicht gewesen, die Sonne aufgehen
zu lassen Fehlanzeigte angesichts einer aalglatten, risikoscheuen
Heile-Welt-Seligkeit. Murray hat es schon oft wesentlich
besser vorgemacht!
Moers im Jahre 2001 wurde daher eher punktuell seinem gewohnten
hohen Standard in Sachen hellhöriger musikalischer Abenteuerlust
gerecht. Mit gespentischen Noise-Attacken radikalisierten Supersilent
aus Norwegen den trompetenzentrierten elekt-rischen Jazz
ins Extreme. Harscher Power-Jazz aus Japan kam von der Pianistin
Satoko Fujii eine profunde Tastenzauberin, deren mutiges
Spiel Nähen zu Paul Bley oder Cecil Taylor aufwies! Solider
Main-stream, der sich vor der Tradition verneigt ohne dabei die
Jugend zu verlieren kam von der hoch talentierten Sängerin
Jeri Brown, deren durchgestylter Scat-Gesang auf der Basis grooviger
Standards nicht nur die Puristenminderheit begeisterte. Für
Sternstunden in punkto musikalischer Frische scheint der Italienier
Gianluigi Trovesi mittlerweile ein Dauerabo zu haben. Zum Festivalauftakt
präsentierte er sich im BigBand-Format zusammen mit einem überragenden
Markus Stockhausen auf der Trompete. Ganz in den äußersten
Randbezirken eines ohnehin schon (welt)offenen Jazzbegriffes rangierte
ein ambitioniertes Schwerpunktthema des Festivals: Die Rede ist
von Art Rock, jener Strömung, mit der viele Bands der 70er
in opulente dramaturgische Gesamtkonzepte vorstießen. Das
Projekt Soupsongs präsentierte berückend schöne
Songs des frühen Robert Wyatt. Weniger ätherisch, dafür
umso abgründiger ging der einstige Pere-Ubu-Sänger David
Thomas in seinen Songs zu Werke. Zum Finale ließen die Residents
in ihrer Eigenschaft als amtliche Pioniere in Sachen multimedialer
Gesamtkunstwerke kein Sinnesorgan unbedient: Abwechselnd mit Industrial-Attributen
und filmmusikalischem Pathos aufgeladen, waren die Songs zu theatralischen
Bögen verwoben, über deren Verlauf das Publikum zeitweise
selber abstimmen durfte. Optisch konkurrierte eine schattenspielartige
Gestik des Sänger/-innen-Duos mit Videoprojektionen voll kafkaesker
Obsessivität. Und noch etwas fiel auf: Wie schon lange nicht
mehr fand eine deutliche Polarisierung des Publikums in der Meinung
über das Konzert der Residents statt.