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nmz-archiv
nmz 2001/07-08 | Seite 12
50. Jahrgang | Juli/August
Kulturpolitik
Theater sind das kulturelle Herz der Städte
Offener Brief an den thüringischen Ministerpräsidenten
Bernhard Vogel
Im Streit um die Zukunft der Thüringer Theater- und Orchesterlandschaft
haben sich bisher vorwiegend Politiker und Experten aus Weimar und
Erfurt zu Wort gemeldet. Die Künstler und die kleineren Theater
des Landes sind mit ihren Überlegungen bisher nicht gehört
worden. Der Chefdirigent der Thüringer Symphoniker Saalfeld/Rudolfstadt
und Musikalischer Oberleiter des Thüringer Landestheaters Eise-nach-Rudolfstadt-Saalfeld,
Oliver Weder, hat sich daher entschlossen, sich in einem offenen
Brief direkt an den Ministerpräsidenten zu wenden. Die neue
musikzeitung druckt diesen in voller Länge ab.
Thüringen blüht und gedeiht die Menschen verschönern
ihre Häuser, wir fahren auf den besten Autobahnen der Welt,
unsere Stadt hat ein neues Kino, wir bauen ein Spaßbad, und
es gibt herrliche Einkaufszentren, Baumärkte und Videotheken.
Aber die Kultur, der diese Region ihre Bedeutung verdankt, wird
in diesen Tagen amputiert. Folgt man den Plänen Ihrer Ministerin
für Wissenschaft und Kunst, so steht uns ein radikaler Abbau
der in Jahrhunderten gewachsenen Theater- und Orchesterlandschaft
Thüringens bevor.
Ich wende mich an Sie als ein Wahl-Thüringer und als Chefdirigent
der Thüringer Sinfoniker Saalfeld-Rudolfstadt und des hiesigen
Landestheaters angesichts unserer bevorstehenden Liquidation. Wir
haben bisher nicht durch spektakuläre Events bundesweit auf
uns aufmerksam gemacht, wir bieten keine Skandale und werden nicht
in der FAZ rezensiert. Aber wir haben jeden Abend ein
volles Haus und widerlegen damit fast täglich die von der Ministerin
gebetsmühlenhaft wiederholte Behauptung, es gebe in Thüringen
ein ungenutztes Überangebot an Musik und Theater.
Wir sind gern gesehener Botschafter unserer Region in den neuen
und alten Bundesländern, wir können glänzende Auslastung
und Besucherzahlen vorweisen und bieten für unsere Bürger
ein unverzichtbares Angebot an Unterhaltung, Sinnstiftung, Volks-
und Jugendbildung, ästhetischer Erziehung und Identifikationsmöglichkeit
in einer an Orientierung armen Zeit.
Ein patriotischer Zeitgenosse hat einmal gesagt, Thüringen
sei das kulturelle Herz Deutschlands wir sind das kulturelle
Herz unserer Städte, das man nicht ungestraft herausreißen
darf. Die Überzeugung Ihrer Ministerin, das elementare Bedürfnis
der Menschen nach Musik und Theaterkunst in Zukunft mit tingelnden
Reisetheatern und -orchestern befriedigen zu können, entbehrt
der Realität. Unsere Besucher kommen nicht zu uns, weil wir
ebenso gut spielen und singen können wie die Künstler
aus der Nachbarstadt unsere Nachbarn sind immerhin
Weimar und Jena , sie kommen in ihr Theater, um
ihre Künstler zu hören und zu sehen, ein speziell
für diesen Ort und für sie erarbeitetes ästhetisches,
inhaltliches und personelles Angebot.
Warum sollten unsere Städte, die gewaltige Summen einzusetzen
bereit sind, um ihren Bürgern diese Teilhabe an der so genannten
Hochkultur zu ermöglichen und eigene Orchestermusiker, Sänger
und Schauspieler in ihren Mauern zu beherbergen, in Zukunft anonyme
Bespieltruppen finanzieren?
Warum sollte Saalfeld in Zukunft das Orchester aus Gotha einladen
und nicht aus Bamberg oder Brunn, warum Eisenach die Oper aus Nordhausen
und nicht aus Prag oder Danzig? Ist es der Gang der Geschichte,
dass die Provinz ihre Kultur verliert?
Folgt auf die Ent-Industrialisierung des Ostens jetzt unweigerlich
die Ent-Kultivierung? Und wollen Sie Ihre erfolgreiche Amtszeit
mit einem Kahlschlag historischer Dimension abschließen?
Es ist der Kunstministerin nicht vorzuwerfen, dass sie brutale
Sparzwänge umsetzen muss, wohl aber, dass sie in technokratischer
Manier versucht, am grünen Tisch neu zu ordnen, was von kluger
Hand gegründet und in Jahrhunderten gewachsen ist, und als
Strukturveränderung zu verkaufen, was da Abwicklung, Spartenschließung,
Kapitulation heißen muss. Etwa drei Millionen jährlich
fehlen, um das erfolgreiche und politisch gewollte Fusionsmodell
Eisenach-Rudolfstadt-Saalfeld mit seinen zwei Orchestern, Musiktheater,
Ballett und Schauspiel über das Jahr 2003 hinaus zu erhalten,
und die lokalen Träger sind bereit, ihren Teil zu erbringen.
Das Land aber sammelt schon jetzt hohe zweistellige Millionenbeträge,
die fällig werden, wenn ein Großteil unserer Künstler
auf die Straße gesetzt werden soll. Ja, Thüringen zahlt
pro Kopf der Bevölkerung mehr für Theater als andere Bundesländer,
darauf können wir stolz sein. Aber sind wir als Flächenstaat
mit der höchsten Theaterdichte Europas nicht dafür in
die Pflicht genommen?
Das von der Großmutter ererbte Tafelsilber wirft man nicht
aus dem Fenster. Auch wenn man nichts damit anfangen kann, hat man
es zu bewahren, zu pflegen und an die nächste Generation weiterzureichen.
Seit 1635 hat Rudolfstadt ein Orchester, und das Rudolfstädter
Theater hat kürzlich seinen 200. Geburtstag gefeiert. Darf
der Staat dieses aus feudalen Zeiten auf ihn überkommene Mäzenatentum
einfach ausschlagen? Darf eine für eine Legislaturperiode gewählte
Ministerin Hand an ein solches Erbe legen? Können wir von Jung
und Alt Bildung, Gemeinsinn und bürgerliche Tugenden einfordern,
wenn wir gleichzeitig deren geistige Grundlagen preis geben? Liegt
nicht das Besondere der deutschen Kultur in ihrer Regionalität,
einem Erbe der Kleinstaaterei, einem in die Moderne herübergeretteten
Reichtum, um den uns die ganze Welt beneidet?
Ich appelliere an Sie als Landesvater und Konservativen im besten
Sinne des Wortes: Greifen Sie in diese unheilvolle und unumkehrbare
Entwicklung ein und räumen Sie der Kunst den Platz ein, der
ihr in diesem Land gebührt! Lassen Sie nicht zu, dass im Kampf
um knappe Mittel die Kleinstadttheater dem Geldbedarf der Großen
geopfert werden, das Repräsentationsbedürfnis der Landeshauptstadt
die Provinz veröden lässt! Bewahren Sie für uns und
die nach uns Folgenden Thüringens unwiederbringliche und vielgestaltige
Orches-ter und Theaterlandschaft, die Bürger werden es Ihnen
nicht vergessen.
Oliver Weder, Musikalischer Oberleiter und Chefdirigent