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nmz-archiv
nmz 2001/07-08 | Seite 16
50. Jahrgang | Juli/August
Portrait
Schöne alte Welt
Das Düsseldorfer notabu.ensemble neue musik
Düsseldorf, 1983. Schauplatz Robert-Schumann-Hochschule,
Abteilung Instrumentalausbildung. Für einen kurzen Moment legen
einige Studenten ihre Instrumente zur Seite und stecken dafür
etwas intensiver die Köpfe zusammen. Da ist diese leidige Frage,
die sie seit geraumer Zeit umtreibt, auf die keiner, außer
Achselzucken und mahnenden Hinweisen zur Übedisziplin, bisher
eine vernünftige Antwort bekommen hat: Wir studieren Musik
im 20. Jahrhundert, doch die Musik des 20. Jahrhunderts kommt in
der Ausbildung überhaupt nicht vor!? Einzelunterricht? Gruppenunterricht?
Angebote zu A wie Antheill bis Z wie Zimmermann? Fehlanzeige.
Was tun? Vielleicht einmal den Kompositionsprofessor Günther
Becker konsultieren...
Gruppenbild mit Damen: das
notabu.ensemble. Foto: Síto
Der, ehemaliger Fortner-Schüler, hatte für das Begehren
der Studenten vollstes Verständnis und bot Hilfe an, vermittelte
der ebenso ratlosen wie wissbegierigen Jugend die Positionen und
Schreibweisen zeitgenössischen Komponierens. Rückblickend
sagt er: Die jungen Leute mussten sich erst mal ein bisschen
in die Mentalität von Isang Yun, Edgar Varese und Gigi Nono
eindenken. Das kann man nicht von jetzt auf nachher machen, nachdem
sie vorher in dieser Weise überhaupt nicht unterrichtet worden
sind. Das braucht eine gewisse Zeit. Die hatten die
jungen Leute, besser gesagt: sie nahmen sie sich. Soviel zur
Keimzelle des notabu.ensemble neue musik.
Erfolgreiche Ensemblegründungen beginnen nicht selten als
Selbsthilfeprojekt. Versteinerte Verhältnisse in Bewegung zu
bringen, sie eingreifend umzugestalten, ihnen mitbestimmend neue
Form zu verleihen, setzt nicht nur Selbstbewusstsein voraus, sondern
auch frei. Bekannt sind die Anfänge des Ensemble Modern aus
dem Wunsch einiger Mitglieder der Jungen Deutschen Philharmonie,
sich als Orchestermusiker ausschließlich auf die Interpretation
von Werken des 20. Jahrhunderts konzentrieren zu wollen. Ob allerdings
dem zwischenzeitlichen, geradezu kometenartigen Aufstieg dieses
Ensembles entnommen werden darf, dass die Idee einer zeitgenössischen
Ästhetik in Programmierung und Ausbildung ubiquitär geworden
ist, scheint eher zweifelhaft. Vielmehr steht zu vermuten, dass
im Fall der Frankfurter die Möglichkeit gesehen wurde, dem
nationalen Musikleben ein Aushängeschild zu geben, das den
internationalen Wettbewerbern (London Sinfonietta, Ensemble Intercontemporain)
die Stange halten konnte und kann.
Solchen Erwartungen, verbunden mit dem Rampenlicht einer interessierten
Öffentlichkeit, ist das notabu.ensemble in den bisherigen siebzehn
Jahren seines Bestehens kaum ausgesetzt worden. Sicher, da stehen
seit der Gründung 1983/84 über 400 Werke mit zahlreichen
Uraufführungen in der Konzertbilanz, vier Biennale-Zyklen Europa
ohne Grenzen, Komponistenporträts, Festivalauftritte, Musikratskonzerte
seit 1986, Tonhallen-Engagements seit 1988 sowie eine kontinuierliche
Beteiligung bei zeitgenössischen Musiktheaterproduktionen
und dennoch will der Eindruck chronischer Unterbeschäftigung
des Ensembles nicht weichen, weswegen viele der insgesamt zwanzig
notabu-Mitglieder ganz zwangsläufig in anderen Orchestern Unter-
und Auskommen suchen. Los des freischaffenden Künstlers.
Die jetzt wieder besetzte neue Geschäftsleitung wird insofern
als vordringliche Maßnahme die Aquirierungsturbine anwerfen
müssen.
Da ist die Lage des großen Bruders, des offiziellen
NRW-Klangkörpers 1990 gewissermaßen über
Nacht und von oben eingesetzt, luxuriös im
Landeshaushalt abgesichert des Landesensembles Musikfabrik,
schon anders. Allerdings haben die letzten zehn Jahre hinlänglich
bewiesen, dass die selbstständig gewordene, ehemalige studentische
Initiative der mit ihrer Ausbildung hadernden Junginstrumentalisten
den Vergleich mit den Musikfabrikern in keiner Weise zu scheuen
braucht. Verdienst vor allem des Dirigenten und Komponisten Mark-Andreas
Schlingensiepen, der als erster und bisher einziger Leiter zu den
drei noch aktiven Gründungsmitgliedern zählt. Seine insistierende
Arbeit an den Partituren, das punktgenaue Übersetzen einer
kompositorischen Handschrift hat das Ensemble zum fortgesetzten
eigenen Nutzen als Voraussetzung seiner ästhetischen Präsenz
und Überzeugungsarbeit erkannt. Geschätzt wird Schlingensiepens
künstlerische Kompetenz auch von anderen Orchestern, die er
bei seinen zahlreichen nationalen wie internationalen Gastdirigaten
leitet.
Dass notabu seine Selbstdarstellungs- und Selbstverständigungsprozesse,
wie geschildert, im Windschatten der großen nationalen oder
regionalen Hoffnungsträger wie Musikfabrik und
Ensemble Modern absolvieren durfte, hatte beziehungsweise hat auch
sein Gutes. Es hat die (wie es so schön heißt) Profilierung
des Ensembles im Sinne der jetzt vielfach beschworenen Nachhaltigkeit
befördert und geschärft. So hat sich das Ensemble seit
rund zehn Jahren den Faible seines Leiters für Stummfilmmusik
zu Eigen gemacht. Für seine Orchesterfassung des Panzerkreuzer
Potemkin nach dem Klavierauszug von Edmund Meisl wurde Schlingensiepen
1988 der Deutsche Schallplattenpreis zugesprochen. Zu Klassikern
wie Ruttmanns Sinfonie der Großstadt, Lubitschs
Madame Dubarry oder zum Student von Prag
von Stellan Rye hat er Ensemble- und Orchesterfassungen beigesteuert
und zu den Avantgardefilmen eines Fernand Léger, René
Clair und Man Ray teilweise eigene Musiken komponiert. Das
Kabinett des Dr. Cagliari von Robert Wiene sowie Der
letzte Mann und Tabu A South Sea Story
von Friedrich-Wilhelm Murnau gehören längst zum Repertoire
des Ensembles. Letzterer wurde 1992 sogar zum Inspirationsgeber
des neuen Ensemblenamens. Mit schillerndem Assoziationsraum wurde
Tabu anverwandelt zu notabu. Die Musik von Violetta
Dinescu zum Murnau-Klassiker ist zur Zeit Gegenstand einer CD-Produktion.
Apropos. Auch wenn die Qualität einer Formation an seiner Bereitschaft
zur Veräußerlichung kaum gemessen werden kann, ist bezeichnend,
dass sich notabu in die Plattenkataloge noch kaum eingetragen hat.
Die erste und (bisher) einzige CD (Cybele 360 201) war beinahe ein
Muss. Mit der Einspielung von Kompositionen Günther Beckers
aus den 60er- bis 80er-Jahren ehrte das Ensemble seinen langjährigen
Mentor und Förderer. Der hatte in der Anfangszeit auf eigene
Rechnung Saalmiete und Plakatkosten übernommen, ehe Peter Girth
als erster Intendant der Düsseldorfer Tonhalle seine Zuständigkeit
erkannte. Übrigens ging die Bescheidenheit des mittlerweile
im Ruhestand, fern von Düsseldorf lebenden Komponisten so weit,
dass er dem Ensemble anfänglich förmlich untersagte, seine
Werke zu spielen, nur um ja nicht dem Verdacht ausgesetzt zu werden,
er halte sich ein Hausensemble.
Schöne alte Welt. Einspruch wegen Nostalgieverdacht?
Zugelassen. Denn das bessere Schlusswort für dieses Ensemble
wie für den bekennnenden Freund des musikalischen und humanen
Fortschritts wäre sicherlich eine 1989/90 entstandene Komposition,
deren Titel Becker einem Dickens-Roman entlehnt hat: Hard times
Multisounds.