[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2001/07-08 | Seite 22
50. Jahrgang | Juli/August
Bücher
Spannend, humorvoll und unverstaubt
Musikwissenschaftliche und musikhistorische Werke im französischen
Gründ-Verlag
Les Baroqueux ou le Musicalement Correct de Jean-Paul Penin,
Gründ Paris 2000, 271 Seiten uvres littéraires dHector Berlioz
Réédition de la Réédition de 1968/69/71
Gründ Paris 2000, 656 Seiten/416 Seiten/492 Seiten, 295 Francs
Librairie Gründ; 60, rue Mazarine; 75006 Paris
Für deutsche Leser mag es ein exotisches Unterfangen sein,
auf musikwissenschaftliche oder musikhistorische Bücher in
französischer Sprache hingewiesen zu werden, die der renommierte
Pariser Gründ-Verlag im vergangenen Jahr in der Sparte Musikwissenschaft
(Collection musique) veröffentlicht hat. Wer in der glücklichen
Lage ist, das Französische in Wort und Schrift fließend
zu beherrschen, dem ist in beiden Fällen der Lesegenuss garantiert,
aber auch, wer sich mühsam mit Wörterbuch und Vokabelnraten
durchwurschteln muss, zieht großen (Lust-) Gewinn aus beiden
Editionen.
Getreu dem Motto erst die Arbeit, dann das Vergnügen
, sei auf Jean-Paul Penins im vergangenen Jahr veröffentlichte
kenntnisreiche Gedanken zur historischen Aufführungspraxis
hingewiesen, die unter dem Titel Les Baroqueux ou le Musicalement
Correct bei Gründ Paris erschienen sind. Das Buch muss
im Kontext einer mannigfaltigen internationalen Spezialliteratur
gesehen werden. Interessant ist hier der französische Blickwinkel
und, eher noch, der ganz persönliche des Autors Penin, der
letzten Endes in dem Fazit mündet, dass Musik Kunst ist und
klingen muss. Eine Binsenweisheit, um die mit oder ohne Vibrato
mancher Glaubenskrieg in der Spezialistenszene ausgetragen wird.
In der Einleitung nimmt den Autor (und damit den Leser) der Eindruck
einer Beethoven-Sinfonie auf Instrumenten der Zeit gefangen. Der
simple Trick, mit dem Penin den Leser in sein Thema einführt,
hat Folgen. Das Buch ist spannend. Wir lernen, dass die Musik des
Barockzeitalters erst vor kurzem wieder entdeckt worden
ist; aber es hat wunderbare Ausreißer gegeben:
So entdeckte ein gewisser Wolfgang Amadeus Mozart die Bachsche
Kunst der Fuge als quasi unerreichbares Studienobjekt; Felix Mendelssohn
Bartholdy mutete seinem Leipziger Biedermeier-Publikum barocke Oratorien
zu und die gefeierte französische Sängerin Pauline Viardot
servierte am Jour fixe den Pariser Zelebritäten Arien aus Bach-Kantaten
und Händel-Oratorien zum Champagner.
Penin ist ein gebildeter Autor, dessen künstlerischer Werdegang
als Dirigent und Interpret namhafte Stationen wie Wien (bei Lorin
Maazel) und Krakau neben französischen Musikzentren aufweist.
Sein Buch schildert, angereichert durch einen soliden wissenschaftlichen
Apparat mit hochinformativen Fußnoten, die Karriere einer
Wiederentdeckung, nämlich der der Alten Musik, der die gigantesken
orchestralen Irrtümer eines Leopold Stokovski in den 30er-
und 40er-Jahren ebenso beschieden waren wie das häufig kümmerliche
Gezirpe authentischer Gruppen von der strengsten Observanz
in unseren Tagen.
Fazit: Ein lehrreiches, interessant geschriebenes Buch zu einem
Spezialthema, aus dem der Leser viel Gewinn mitnimmt und aus dem
er keinen Staub herausklopfen muss.
Wie weit reichend manchmal gedankliche Brücken gebaut werden,
beweist eine der köstlichen Fußnoten in Jean-Paul Penins
Buch. Fußnote 4 zum ersten Kapitel Un retour à
lancien verweist auf den Autor nachbesprochener Werksammlung:
Les soirées de lorchestre, Les Grotesques
de la musique, À travers chants, den Komponisten
und Musikschriftsteller Hector Berlioz.
Berlioz, der alte, geniale Zuspitzer und schriftstellernde Streithahn
beschreibt in seinem Buch À travers chants eine
für ihn groteske Konzertsituation zum Thema Alte Musik:
Es war herrzerreißend, drei so bewunderungswürdige
Talente in ihrer viel versprechenden Jugend gebündelt zu sehen,
um dieses blöde und lächerliche eintönige Absingen
wiederzugeben. Berlioz meinte mit dieser wenig schmeichelhaften
Rezension Johann Sebastian Bachs Konzert für drei Cembali (bzw.
Klaviere), das von den Weltklassepianisten Franz Liszt, Ferdinand
Hiller und Frédéric Chopin 1833 in Paris interpretiert
wurde.
Warum der Pariser Gründ-Verlag im Jahre 2000 seine 1968/69/71
zuletzt edierte Sammlung der literarischen Schriften des Komponisten
Hector Berlioz noch einmal auf den Markt wirft, hat einen ganz einfachen
Grund: Es gab noch genügend Exemplare für die Wiederauflage.
Gott sei Dank! Denn so kann der interessierte Berlioz-Liebhaber
die erfrischenden Polemiken, persönlichen Sottisen und gut
beobachteten Zustandsschilderungen des zeitgenössischen Gesellschafts-
und Konzertwesens im Paris der 1830er-/1840er-Jahre in der kraftvollen
Originaldiktion des intellektuellen Haudegens Berlioz genießen.
Die dreibändige (broschierte) Werkausgabe ist der typengetreue
Nachdruck der vom Autor authorisierten Ausgabe von 1862; lediglich
die Orthografie wurde der modernen angepasst.
Auch der deutsche Leser wird an dieser Ausgabe seine Freude haben
und schon aufgrund der zahlreichen Abbildungen aus dem Schmunzeln
nicht herauskommen:
Eine wahre Fundgrube an Karikaturen von Porgés, Daumier,
Marcellin, Doré, Benjamin oder Lorsay, um nur einige zu nennen,
weisen den Weg: Lachen statt Gähnen!