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nmz-archiv
nmz 2001/07-08 | Seite 21
50. Jahrgang | Juli/August
Bücher
Musiklexikon in der Online-Offensive
New Grove Dictionary of Music and Musicians, Second Edition
Das Grove Dictionary of Music and Musicians hat sich im Laufe
des 20. Jahrhunderts als das Standardlexikon der klassischen Musik
etabliert. Standard zu sein bedeutet bei keinem Nachschlagewerk,
fehlerfrei zu sein. Als Nicolas Slonimsky (18941995), der
überragende Lexikograf des Jahrhunderts und später Herausgeber
des Bakers Dictionary of Music, 1937 die erste
Auflage seiner epochemachenden Musikgeschichte in Tagesereignissen
Music since 1900 veröffentlichte, listete er im
Anhang umfangreiche Korrekturen zu den gängigen Lexika wie
Grove und Riemann auf, die falsche Geburts- und Sterbedaten von
Musikern des 20. Jahrhunderts enthielten.
Die Anzahl und Prominenz an Fehlerhaftem übte eine erschreckende
Wirkung aus, und 1940 erschien die vierte Auflage des Grove, in
die Slonimskys Liste zähneknirschend ausnahmslos eingearbeitet
wurde. Nun ist die zweite Auflage des zuletzt 1980 erschienen New
Grove erhältlich (eigentlich die siebte Auflage des 187890
erstveröffentlichten Grove), und sie ist gegenüber dem
Vorgänger bedeutend erweitert, schon rein äußerlich
von 20 auf 29 Bände (bzw. von 22.500 auf über 29.000 Einträge,
davon mehr als 20.000 Biografien) in noblem dunkelblau und unverwüstlicher
Bindung, wiegt 68 kg und ist für etwa 9.000 Mark zu haben.
Verantwortlicher Herausgeber ist zum zweiten Mal Stanley Sadie (Editor)
sowie John Tyrrell (Executive Editor). Das Feld der so genannten
Weltmusik nimmt ungefähr doppelt soviel Raum ein als vorher,
und Pop- und Rockmusik kommen erstmals ausführlicher zu Wort,
wenngleich der speziell daran Interessierte nach wie vor auf Speziallexika
angewiesen ist, fehlen doch so bedeutende Musiker wie Peter Hammill,
Fred Frith oder Robert Wyatt. Mich wundert, in einem Kontext der
anspruchsvollen Musik, das fast völlige Fehlen der Avantgarde
im Fadenkreuz von Rock, Jazz, Weltmusik und elektro-akustischem
Experiment (Univers Zero, Henry Cow usw.) hier tut eine umfassende
Horizonterweiterung dringend not.
Dass wichtige Namen ausgelassen sind, ist die Schwäche aller
Lexika. Ich möchte nur die Komponisten Emil Bohnke, Leroy Robertson
und Alistair Hinton als Beispiele nennen. Gravierender ist die Lücke,
die sämtliche Standard-Musiklexika einschließlich MGG
aufweisen: Was ist eine Cortège? Kommt ja oft genug vor und
wird nirgends erklärt! Ein anderes Problem: Auch für akribische
Lexikografen gibt es nicht definitiv lösbare Fälle, und
so dürfen wir nach der Lektüre des Ida-Haendel-Beitrags
getrost trotzdem fragen: Und wann ist sie nun wirklich geboren?
Dann gibt es natürlich immer einige schwache Artikel wie hier
beispielsweise über Sergiu Celibidache, wo verständnislos
Klischees kolportiert werden, über Symphonik im 20. Jahrhundert
mit in diesem auf Objektivität Anspruch erhebenden Rahmen unangebracht
herabwürdigenden Wertungen und Kenntnislücken, oder über
den schwedischen Komponisten Anders Eliasson, wo es um die Aktualität
schlecht bestellt ist. Der Fehlerteufel schließlich wütet
in allen Redaktionen, und er hat die unermüdlichen Grovianer
nicht verschont: Gustav Mahler ist mit einem Mal zwei Monate früher
geboren als tatsächlich, und dieser Fehler ist eine echte Novität
eine unerwünschte Nebenwirkung jener Bemühungen,
die offiziell so lauten: Das Redaktionsteam sowie ein weltweites
Netz von Musikfachleuten prüften und aktualisierten jeden Eintrag,
um die Änderungen der Musikwissenschaft und -forschung auf
den aktuellen Stand zu bringen. Ein Großteil der Aufsätze
über bedeutende Komponisten wurde völlig neu bearbeitet
oder neu verfasst. Und dabei passierts dann eben. Ganz
frei von Animositäten ist man auch nicht, und der unverzichtbare
Slonimsky, dem man Entscheidendes verdankt, wird sehr knapp und
nicht ohne einen unberechtigten kleinen Seitenhieb abgehandelt,
denn seine Enthüllungen haben einst zwar der Wissenschaft geholfen,
jedoch dem Image des Hauses Grove geschadet, und alleine schon seine
bloße Existenz war eine Provokation für alle ambitionierten
Kollegen.
Wer sich nur für den deutschsprachigen Raum interessiert
oder des Englischen nicht mächtig ist, ist mit dem MGG besser
bedient. Inter-national dürfte der New Grove langfristig die
erste Wahl bleiben, zumal er jetzt auch als Online-Lexikon zugänglich
ist ein Pionierprojekt, das im Jahresabonnement satte 600
Mark kostet, wobei bei kurzfristiger Nutzung Ermäßigungen
möglich sind (Info-Telefon: +44-207/226 74 50).
Für den, der beruflich oder aus unersättlichem Wissensdrang
ständigen Informationsbedarf hat, können sich diese Kosten
rechnen, zumal die Online-Redaktion unter Leitung von Laura Macy,
die für Verbesserungsvorschläge immer aufgeschlossen ist,
vierteljährlich Aktualisierungen vornimmt.
Zudem kann man online die Stichwortsuche selbstverständlich
auf den gesamten Text ausdehnen und so jeden Verweis finden, was
in einer gedruckten Ausgabe mehrere Zusatzbände erforderlich
machen würde. Zu empfehlen wäre, über die Online-Ausgabe
auch den Zugriff auf Artikel zu ermöglichen, die nur im New
Grove Dictionary of American Music enthalten sind (wie zum
Beispiel über den eminenten Violinvirtuosen und Geburtshelfer
neuer Musik Tossy Spivakovsky) und nicht im allgemeinen Dictionary.
Wer die Bände erwirbt, erhält deswegen noch lange keine
Berechtigung zur Online-Nutzung und hat so nicht an der Aktualisierung
teil wäre es nicht denkbar, diese auch in gedruckter
Form, etwa als Lose-Blatt-Erweiterung, anzubieten, nach Vorbild
des deutschen KdG (Komponisten der Gegenwart) mit entsprechendem
Ordner und jeweils neu angepasstem Index?
Das würde sicher nicht zuletzt die Attraktivität der
gedruckten Version erhöhen. Und vielleicht dürfen wir
dann auch etwas zu dem Stichwort Cortège erfahren.