[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2001/07-08 | Seite 24
50. Jahrgang | Juli/August
Noten
Im Urwald der Notenköpfe
Cellosinfonisches aus verschiedenen Verlagen
Wilhelm Kaiser-Lindemann: Variaçoes Brasileiras für
12 Celli. Kunzelmann, Lottstetten 2000 Werner Thomas-Mifune: Die alte Lokomotive für 12 Celli.
Kunzelmann, Lottstetten 2000 Wilhelm Kaiser-Lindemann: Mambo for Six für 6 Celli.
Kunzelmann, Lottstetten 2000 Mario Berón de Astrada: El Angel Angel für 6 Celli.
Kunzelmann, Lottstetten 1999
Das Stück Die 12 in Bossa-Nova (Variaçoes
Brasileiras) erscheint für den Verlag Kunzelmann
eine revolutionäre Neuheit! mit einem Vorwort des Autors,
das ganz zitiert sei: Dieses Stück war quasi ein Autragswerk
der zwölf Cellisten der Berliner Philharmoniker für eine
CD-Produktion der EMI-classics mit Stücken, die
Lateinamerika zum Thema hatten. Die Vorgabe an mich war, dass es
in lateinamerikanischem Fluidum auf klassisch-sinfonischem Boden
stehen und dabei für alle zwölf Spieler hochvirtuos sein
sollte. So sind dann auch alle zwölf Cellis-ten hier die Protagonisten,
keiner hat einen weniger wichtigen Part zu spielen als sein Nachbar,
jeder hat in seiner Stimme auch Melodieführung oder virtuose
Bravour-Stellen. [Das Stück] besteht aus einem 24-taktigen
Thema, dem zwei Variationen folgen. Nicht nur Melodie und Begleitung,
sondern auch der Bossa-Nova-Rhythmus machen in den zwei Variations-Strophen
große Veränderungen durch.
Nach vier Takten Einleitung beginnt das Celloquartett 14
mit dem Thema, das meiner Zählung nach 14 Takte umfasst, gibt
dann weiter an Celloquintett 812, bis dann mit Erreichen der
1. Var. alle zwölf Celli gleichgewichtig eingesetzt sind. Diese
1. Var. verlangt auch neue Spieltechniken wie Hand on corpus, collegno,
flagellato und Sprechen. Hochvirtuos wird die 2. Var. erreicht,
die in eine kurze Coda mündet. Interessant ist die Harmonik:
Das Stück beginnt D-Dur, steigt auf Es-Dur in der 1. Var. und
endet in E-Dur mit der 2. Var. ein Verfahren, das an ein
ganz anderes musikalisches Ufer gemahnt. Die Ausgabe ist eigentlich
gar kein echter Notendruck, sondern ein Kopie-Druck,
und mit der notorischen Kunzelmannschen Nachlässigkeit
(z.B. die Taktzählung betreffend, die einfach die Partiturzahlen
in die Einzelstimmen überträgt, wo sie dann irgendwo im
Urwald der Notenköpfe zu suchen sind). Das Deckblatt ziert
ein lasziv-interessantes Foto des altbekannten brasilianischen Karneval-Klischees.
Besser gedruckt kommt hingegen Die alte Lokomotive
daher, aber dennoch mit in diesem Verlag üblicher Korrekturlese-Resistenz
sehr schön ist der dicke Druckfehler im Titel auf dem
Deckblatt. Innen fehlen Fermaten, die natürlich, wenn sie in
der Partitur fehlen, auch in den Einzelstimmen nicht stehen, auch
sind ohne ersichtlichen Grund die gesprochenen Geräusche unterschiedlich
notiert. Das Stück besteht aus einer Einleitung (die Lok fährt
an), zwei Themendurchführungen und einer Art Coda (die Lok
bleibt stehen). Melodietragend sind die Celli 13 (resp. 14),
die anderen sind quasi die Rhythmus-Combo, fürs
Beschleunigen, Abbremsen und Pfeifen zuständig. Irgendwie meint
man, kennte man das Thema, auch und gerade von Herrn Thomas-Mifune.
Zum Verwechseln ähnlich ist schon die Kleine Eisenbahn
des Autors (Kunzelmann, 1983), vor allem aber der 4. Satz Toccata
(O Trenzinho de Caipira) aus den Bachianas Brasileiras 2º
von Heitor Villa-Lobos. Verantwortlicher Umgang heißt für
mich, wörtliche oder Genre-Zitate als solche zu benennen; und
eine gute Ausgabe ist für mich sorgfältig lektoriert und
mit einem Vorwort versehen.
Leider sind den zwei folgenden Ausgaben von Cello-Sextetten keine
Informationen beigegeben, so dass für mich die jeweiligen Autoren
im Dunkeln bleiben. Der Mambo for Six ist ein gänzlich
anderes Stück als die Variaçoes Brasileiras
für die Berliner zwölf Cellisten: nach kurzer Einleitung
präsentiert das erste Cello die Tanzmelodie, die anderen Celli
begleiten vornehmlich. In der Coda gibt es eine interessante Stelle,
in der fünf Celli lang gezogene Melodien und Klänge spielen
und nur das sechste Cello den Rhythmus des vom kubanischen Rumba
abstammenden Mambo versucht hörbar werden zu lassen. Das Stück
ist gut in der Mittelstufe ausführbar und auch nicht sehr lang.
Im letzten Band hat sich der Verlag deckblattmäßig selbst
übertroffen: Der Gambe spielende Engel vom Isenheimer Altar
aus Colmar ziert die Edition. (Selbstverständlich ist ein Hinweis
darauf wie auch auf den vermutlich nicht jedem Cellisten geläufigen
Komponis-ten und seine programmatischen Titel zuviel verlangt.)
El Angel Angel besteht aus drei Sätzen: Los Angeles
Abañiles (Die Mauerengel), El Angel Angel (Der Engel aller
Engel) und El Angel Confitero (Der Engel der Süßigkeiten).
Die Tonsprache ist eher traditionell, der Engel aller Engel
eine Habanera (was den Komponisten gleich sympathisch macht) und
der Finalsatz angesichts der schnellen Figuren mit Allegro (ca.
63) ein wenig danebenbezeichnet. Aber es könnte Spaß
bringen, die Stücke im Sextett zu üben. Alle vier Ausgaben
erscheinen mit Partitur und Einzelstimmen, der Druck ist in der
Qualität unterschiedlich, der Ärger (bei mir) über
ein dermaßen der Arbeit abholdes Lektorat groß.