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nmz-archiv
nmz 2001/07-08 | Seite 41
50. Jahrgang | Juli/August
Weltmusik
Im übermächtigen Schatten der Ragas
Die Kammerphilharmonie Merck aus Darmstadt sammelte Erfahrungen
in Indien
Es war göttliche Musik. Sie hat mir die Tränen
in die Augen treten lassen. Das sagte Vishal Bhardwaj, nachdem
er Mozarts Flötenkonzert gehört hatte, wie es Henrik Wiese
und die Kammerphilharmonie Merck im indischen Mumbai spielten. Und
Bhardwaj kennt sich aus mit Musik und vor allem mit ihrer Wirkung,
denn er ist Regisseur in der Hindi-Musikfilm-Branche. Männer
wie Bhardwaj regulieren somit in Indien die musikalische Breitenversorgung,
Mumbais Filmindustrie übertrifft die Produktionsrate Hollywoods
bei weitem. Und Musik spielt dabei die wesentliche Rolle. Macht
man in Indien das Fernsehen an, wird auf den meisten Kanälen
gesungen, meistens im Duett. Und geben die fünf aktuellen Stars
der Szene gemeinsam ein Open-Air-Konzert wie jetzt am Tag nach dem
göttlichen Mozart-Konzert, so haben sie 25.000 Zuhörer,
wo Mozart gut 1.000 hatte.
Der Hindi-Musik-Film ist überall, und Mozart ist nirgends
in Indien. Dieser Vergleich ist natürlich nicht lauter, schließlich
können auch in Deutschland wahrscheinlich mehr Menschen beim
Titelsong von Cats mit einstimmen als bei Parsifals
Grals-Erzählung. Doch erst in der Präsenz von Musik aller
Art in Indien wird deutlich, wie schwer der Stand ist, den die westliche
klassische Musik in dieser Konkurrenz hat. Doch es gibt Bewegung.
Die Kammerphilharmonie Merck aus Darmstadt hat seit dem German
Festival in India Indienerfahrung und das ist selten
genug im klassischen Genre, denn kaum einmal verirrt sich ein komplettes
Orchester in dieses Riesenreich. Ein bis zwei Mal jährlich
gibt es immerhin noch in New Delhi sinfonische Konzerte, auch Mumbai
(Bombay) ist relativ gut versorgt. Doch fragt man in der Provinz
wie etwa in der 4-Millionen-Stadt Pune, muss man dort schon lange
Jahre zurückrechnen, um sich an ein Orchester erinnern zu können.
Anna Abraham, die Musikkritikerin der Zeitung The Hindu, bekam
in ihrem schon recht langen Leben in Madras oder Chennai,
wie es heute offiziell heißt zwei bis drei größere
Kammerorchester zu hören, nicht mehr. Eine Beethoven-Sinfonie
war schon ewig nicht mehr dabei, die Lücke Beethovens
Erste ist nun dank der Kammerphilharmonie Merck endlich geschlossen.
In Madras, sagte sie, sei jedoch in den letzten Jahren eine wirklich
große Hörerschaft für westliche Musik gewachsen,
prozentual weit größer, als es sie etwa in der 14-Millionen-Metropole
Kalkutta gebe. Kalkutta galt lange und bei den Bengalen selbstverständlich
auch nach wie vor als die Kulturhauptstadt Indiens. Allerdings
sei das kulturelle Leben wie alles in dieser Stadt sehr stagnativ,
und gerade westliche Klassik spiele hier kaum eine Rolle, so die
Musikkritikerin. Für das Merck-Konzert in Kalkutta allerdings
bildeten dennoch genügend Inder jene fein säuberliche
Schlange vor dem Konzerthaus, die zum kolonial-englischen Erbe gehört
wie Cricket und Backstein.
Why shows go unnoticed, titelte ein indischer Journalist
seinen Artikel, in dem er bedauert, dass westliche Musik aller Art
zwar reichlich angeboten vom US-Blues über französische
Indo-Techno Fusion bis Mozart , aber kaum frequentiert wird.
Einmal abgesehen vom Merck-Orchester haben wir immer nur halb
gefüllte Säle gesehen und ein irritiertes Publikum.
Zur Kammerphilharmonie, einem der lediglich zwei Orchester, die
zu den sechs Monate andauernden Festspielen deutscher Kultur nach
Indien eingeladen wurden, kam immer genug Publikum bei freiem
Eintritt, sonst hätte auch hier die Lage anders ausgesehen,
wie man beim mitveranstaltenden Goethe-Institut schätzt. Die
1.000-Personen-Säle jeweils, meist akustisch eher ungeeignete
Mehrzweckbauten mit brüllenden Aircondition-Anlagen, waren
bei dieser 7-Städte-Tournee gut ausgelastet, und die Zuhörer
waren in der Tat enthusiastisch. Doch man durfte sich nicht täuschen:
Die Kammerphilharmoniker aus Darmstadt spielten hier nicht für
den Inder von der Straße, sondern für eine
extrem kleine Gemeinschaft. Interesse an westlicher E-Musik hat
nur ein sehr kleiner Ausschnitt aus der Gesellschaft, nur das Bildungsbürgertum
Indien hat eine Klassengesellschaft, das wird auch im Konzertsaal
deutlich , und auch da wieder nur ein kleiner Kreis mit dieser
besonderen Vorliebe.
Terence DSouza, in Mumbai Regional Director des Indian Council
for Cultural Relations, kennt sein Publikum gut. Vor allem Parsen
und Christen, so sagt er, besuchen westlich-klassische Konzerte,
die Community sei sehr homogen. Die Parsen, traditionell aufgeschlossen
für alles Westliche, stellen nicht nur eine Art intellektuelle
Oberschicht dar, sondern ebenso eine finanzielle. Den schönen
neuen Konzertsaal in Mumbai hat beispielsweise Jamshed Bhabha bezahlt,
einer aus der potenten Parsen-Familie der Tata, einem der größten
Industriekonzerne Indiens. Und Jamshed Bhabha kann mit Jahreszahlen
aus dem Leben Beethovens nur so jonglieren.
Es sind die indischen Klassiker, die Europas Musikgrößen
so sehr im Schatten stehen lassen, nicht so sehr die populäre
Filmmusik. So sieht es Tilmann Waldraff, Leiter des Goethe-Instituts
von Delhi und damit Ko-Veranstalter des Indien-Festivals. Die indische
E-Musik, die als Volksmusik stark in der Bevölkerung verwurzelt
ist, sei überraschend wenig offen für Westliches. Anders
als in der bildenden Kunst, in der Literatur, ja selbst im stark
traditionsgeprägten Tanz gebe es in der Musik so gut wie keine
Öffnung Richtung Westen. Die indischen Ragas werden seit Jahrhunderten
unverändert gepflegt, da sehe man keinen Bedarf an neuen Impulsen.
Ein zunehmendes Interesse an West-Musik glaubt auch Waldraff durchaus
feststellen zu können, doch gebe es von offizieller Seite nur
wenige eigene Aktivitäten in beobachtbarem Tempo. So
werden kaum Instrumente eingeführt, neue Ensembles scheitern
also alleine schon am Material, alles funktioniere immer nur auf
einer privaten Basis, mit privatem Engagement.
Das allerdings ist groß, wie die Merck-Musiker auf ihrer
Konzertreise feststellen konnten. In Goa wollte man den Merck-Konzertmeister
Hartmut Krause gleich für einen Meisterkurs für Violine
in die Pflicht nehmen, und in Delhi beobachtet man am Goethe-Institut
ein enormes Interesse an Seminaren über Mozart und Co. Ein
indischer Musikliebhaber, so erzählt Tilmann Waldraff voll
Respekt, referiere dort regelmäßig über Komponist
und Werk: Wir Westler zucken zwar bei der Art der Interpretationen
zusammen aber die Leute rennen ihm die Bude ein.