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nmz-archiv
nmz 2001/07-08 | Seite 3
50. Jahrgang | Juli/August
Zukunftswerkstatt
Konsequent von der Gegenwart her definiert
Visionen einer neuen Musikwissenschaft · Rede des Siemens-Preisträgers
Reinhold Brinkmann
Man mag es mögen oder nicht das Jahr 2001 ist das Jahr
der Musikwissenschaft. Nicht nur geht der Ernst von Siemens Musikpreis
2001 an einen Musikwissenschaftler; den Leibniz-Preis 2001 erhält
mit Ulrich Konrad von der Universität Würzburg ebenfalls
ein Historiker der Musik. Beide Preisträger, das weiß
ich zufällig, sehen sich ausgezeichnet auch als Vertreter ihrer
Zunft. [ ]
Was tut ein Musikwissenschaftler? Am Beginn eines langen Interviews
hat mich kürzlich ein lieber, guter, höchst geschätzter
Freund, ein Komponist, der in seinen jüngeren Jahren selber
musikwissenschaftliche Seminare frequentiert hat, nach dieser seltenen
Species gefragt. Hier ist seine keineswegs unschuldige Frage im
Wortlaut:
Allgemein wird ja wohl ein Bild davon bestehen, was ein
Musiker macht. Aber was macht ein Musikwissenschaftler? Also,
der Komponist komponiert, der Pianist spielt Klavier was
macht ein Musikwissenschaftler?
Die souveräne Selbstverständlichkeit, mit der hier dem
Musikwissenschaftler bescheinigt wird, er sei kein Musiker, ist
schon bemerkenswert. Da kann es auch nicht helfen, wenn ich darauf
hinweise, dass ich an meiner Universität nicht Professor of
Musicology bin, sondern Professor of Music eine Berufsbezeichnung,
die mir wohl gefällt. Aber das schafft die bohrende Frage nicht
aus der Welt Der Pianist spielt Klavier was macht der
Musikwissenschaftler?
Vielleicht tut er dies: (geht ans Klavier und spielt, ohne Pause:
Chopin, Prélude h-Moll op. 28,6 [1839] und Schönberg,
Kleines Klavierstück op. 19,2 [1911])
Nach H. C. Robbins Landon
erst der zweite Musikwissenschaftler, den die Siemens Musikstiftung
auszeichnete: Reinhard Brinkmann. Foto: Charlotte Oswald
Auch ein Musikwissenschaftler spielt also ein Instrument. Er ist,
ich wage das vorzuschlagen, zuallererst Musiker. Und dieses Musikertum
sollte, vom gleichsam taktilen Umgang mit der Musik ausgehend, seine
gesamte Arbeit durchtönen. Denn es ist der klingende Gegenstand
Musik, der den Musikhistoriker vom Allgemeinhistoriker unterscheidet.
Aber mein kleines Beispiel am Klavier wollte mehr zeigen. Musizieren,
nach-denkende Einkehr halten bei der klingenden Musik, enthält
beim Wissenschaftler eine zusätzliche Dimension. Der
Pianist spielt Klavier, im Normalfall natürlich besser
als der Wissenschaftler, dieser aber spielt im Hinblick auf eine
Fragestellung. Mein unvorhergesehener Ausflug ans Klavier erlaubte
sich das Sakrileg, zwei kurze Stücke, zwei Miniaturen aus zwei
verschiedenen Jahrhunderten zu kombinieren, und diese Konfrontation
fragte nach deren Beziehungen.
Eine kompetente Darstellung dieses Vergleichs wäre das, was
Arnold Schönberg als Zielvorstellung für eine recht verstandene
Musikwissenschaft nannte, nämlich (mit dem aktiven Akkusativ):
Forschungen in die Tiefen der musikalischen Sprache.
Und genau für dieses stritt meine Generation in den 1950er-
und frühen 1960er-Jahren, dies als leitendes Prinzip zu etablieren:
den Kunstcharakter des einzelnen Werks, seine Individualität,
aus dem Durchgang durch die Kompositionstechnik zu erhellen
das sahen jene damals enthusiastischen jungen Wissenschaftler, die
der herrschenden geistesgeschichtlichen Methode überdrüssig
waren, als ihre geschichtliche Aufgabe. Sie wollten eine nach der
Nazi-Herrschaft und nach dem Zweiten Weltkrieg neue, von den politisch-ideologischen
Verfehlungen der Vätergeneration unberührte Methodologie
aufbauen. In deren Zentrum stand die Erkenntnis des Kunstwerks,
der Schlüssel dazu lag in einer eindringenden musikalischen
Analyse. Analyse aber bedeutete Strukturanalyse, nicht von vornherein
und für jeden war es ästhetische Interpretation. Und einher
mit dieser Orientierung auf das Werk ging eine Nobilitierung der
musikalischen Avantgarde als eines legitimen Objekts musikwissenschaftlicher
Arbeit. Es gelang damals, beides durchzusetzen.
Research into the profundities of musical language
heute ist dieses Paradigma als solches bereits wieder vergangen,
abgelöst von einem neuen. Meine klingende Konfrontation von
Chopin und Schönberg enthält auch den Ansatz für
diesen anderen Zugang. Er zeigt sich im sozialen Ort dieser Musik.
Musikalische Lyrik hatte im 19. Jahrhundert primär eine beschränkte,
private Öffentlichkeit. Der soziale Ort für Chopins Musik
war der Salon, seine Hörerschaft war großbürgerlich,
überwiegend weiblich eine Betonung des Femininen, die
in der Rezeption der Musik dann auf diese selbst übertragen
wurde. Es ist faszinierend zu sehen, wie die sozialen Kriterien
umschlagen in ästhetisch-ideologische, wie Chopins Musik in
der zeitgenössischen Presse als weich charakterisiert
wird, bestimmte Gattungen, etwa das Nocturne, als weibliche Musik
gelten (Jeffrey Kallberg hat darüber geschrieben), der Autor
Chopin selber als Salonkomponist. Das eröffnet
ein weites Feld musikwissenschaftlicher Forschungs-Ansätze:
Sozialgeschichte, Institutionenforschung, Rezeptionsästhetik,
Ideologiekritik, Mentalitätsforschung, gender studies...,
in den USA würde man heute insgesamt sagen cultural studies.
Hier treffen wir auf ein neues musikwissenschaftliches Paradigma,
das nicht mehr zuerst auf das autonome Werk und dessen Kunstcharakter
zielt, sondern auf den Kontext von Musik, und das die Werke erst
von diesem Kontext her, von ihrer Einbindung in ihn sieht
als Exempla kultureller Verhältnisse sozusagen. [ ]
Während ich diese neue Kontext-Orientierung grundsätzlich
als richtig und zukunftsweisend bejahe, will ich nicht verschweigen,
dass ich mit Walter Benjamin sehr skeptisch bin gegenüber
dem Universalismus des Kulturbegriffs. Nicht nur meint culture
im englischen Sprachbereich mehr als das deutsche Kultur,
es umfasst auch das in unserem Verständnis pejorative Zivilisation
der Kulturbegriff selber ist, worauf schon früh Andreas
Huyssens hingewiesen hat, von einer Beliebigkeit, die wenig Vertrauen
in seine Verbindlichkeit erweckt.
[ ]
Schwierigkeiten der deutschen
Musikwissenschaft
Die Schwierigkeiten der deutschen Musikwissenschaft mit dem Forschungsprofil
cultural studies aber gründen tiefer als in dem
bloßen Wandel einer musikwissenschaftlichen Methode. Die Etablierung
des neuen, kontext-orientierten Forschungsprogramms war in den USA
selbst bereits ein Reflex einer fundamentalen Krise der bürgerlichen
Musikkultur überhaupt. Und das internationale Fach Musikwissenschaft,
das ist meine feste Überzeugung, wird einmal daran gemessen
werden, wie es diese Krise thematisiert und in deren Entfaltung
kritisch, diagnostisch, helfend, ändernd einzugreifen vermag.
Dazu kann man getrost einige sehr persönliche Kriterien für
eine Musikwissenschaft der nahen Zukunft zu benennen wagen. Vielleicht
darf ich sogar ein wenig emphatisch werden
Ich habe erstens die Vision einer neuen Musikwissenschaft,
deren Gegenstand: die westliche Kunstmusik und ihr Kontext vom
Mittelalter bis heute, ein Gegenstand unter vielen anderen, grundsätzlich
gleichberechtigten ist. Bildlich gesprochen: im großen Haus
der Kulturen der Welt lebt die westliche Tradition in einer Wohnung
neben anderen Musiken aus allen Erdteilen; ohne besondere Privilegien
zu haben und ohne Modell zu sein. Das bedeutet das Ende jeglichen
Eurozentrismus als eines ideologisierten Umgehens mit anderen
Musikkulturen. (Bereits der Begriff außereuropäische
Musik hat einen kolonialistischen Klang.) Dies könnte
institutionell ein Plädoyer für den Ausbau einer kompetenten
Musikethnologie bedeuten.
Ich habe zweitens die Vision einer neuen Musikwissenschaft,
die ihre Methoden von der gesellschaftlichen Dimension der Musik,
von deren Kontext her wählt und bestimmt.
Ich habe drittens die Vision einer neuen Musikwissenschaft,
die im gesetzten Rahmen des kontext-orientierten Profils für
den Sonderbereich der europäisch-westlichen Musiktradition
die Meriten des analytischen Zugangs zum musikalischen Werk nicht
vergisst und diese einst beherrschende Methode jetzt funktional
definiert und das heißt partial einsetzt. Innerhalb dieser
Zentrierung sind Sicherstellung und Bearbeitung der Quellen der
westlichen Musiktradition ein notwendiger Arbeitsbereich. Diese
Philologie im engeren Sinn ist allerdings kein Selbstzweck.
Ich habe viertens die Vision einer neuen Musikwissenschaft,
die sich konsequent von der Gegenwart her definiert, die geschichtsphilosophisch
die Gegenstände der Vergangenheit aus ihren Spannungen hin
zur Gegenwart versteht; und die nicht nur ein völlig unbelastetes
Verhältnis zum aktuellen Komponieren gewinnt, sondern diese
jüngsten künstlerischen Aktivitäten als Teil der
gegenwärtigen Musikszene zum Gegenstand wissenschaftlichen
Nachdenkens macht.
Ich habe fünftens die Vision einer neuen Musikwissenschaft,
deren Vertreter durch aktualisierte Themen eine verstärkte
öffentliche Präsenz anstreben. Diese neue Generation
sehe ich sich intensiv mit der gegenwärtigen Lage der klassischen
bürgerlichen Musikkultur befassen: forschen, Stellung nehmen,
eingreifen.
Und ich habe sechstens die Vision einer neuen Musikwissenschaft,
die die Kommunikation mit einem Laienpublikum zu einem Kernpunkt
von Reformen macht. Ich sehe Musikwissenschaftler bei Poeten in
die Lehre gehen und eine verständliche und doch reich nuancierte
Sprache sprechen und schreiben. Die Entwicklung dieser dem ästhetischen
Gegenstand angemessenen und den Adressaten gleichwohl erreichenden
hermeneutischen Sprache wird die Umwandlung der Musikwissenschaft
in ein auch öffentlich relevantes Fach krönen.
Bestimmendes Eingreifen
Der erste Sektor eines bestimmenden Eingreifens könnte ein
intensiveres und gezielteres Engagement der Musikwissenschaft mit
der musikalischen Praxis sein, ein Engagement, das über die
philologische Bereitstellung von soliden Ausgaben hinausgeht (das
geschieht ja bereits in extenso). Vielmehr meine ich ein Intervenieren
in Bereichen des aktuellen Konzertlebens, die heute wie versteinert
scheinen.
Mein kleiner Ausflug ans Klavier gab ein sehr einfaches Beispiel.
Die sukzessive Kombination musikalischer Miniaturen von Chopin und
Schönberg dachte eine Praxis weiter, die Chopin selbst vorführte.
Heutige Interpreten spielen Chopins 24 Préludes op. 28 ausschließlich
als geschlossenes Opus, als in seiner Gänze unantastbares,
autonomes Werk (Horowitz war wohl eine Ausnahme). Chopin selbst
dachte ganz anders.
Für ihn waren Werke wie sein Opus 28 ein Reservoir. Und für
seine Konzertprogramme kombinierte er einzelne Préludes mit
einzelnen Etüden und Nocturnes, deren Ad-hoc-Auswahl und Zusammenstellung
er dann Suite nannte. Den Préludes mit ihren
oft nicht schließenden Schlüssen gab er so ihre originäre
Funktion, nämlich Präludien zu sein, eine
folgende Musik einzuleiten. Die 24 Préludes als festgefügtes
Opus das ist ein soziales Konstrukt, die selektive Kombination
mit anderen Kleinformen dagegen gibt der einzelnen Miniatur Charakter
und Funktion ihrer Erfindung zurück. Die Kombination zur Suite,
deren Stücke aus mehreren Opera ausgewählt sind, bricht
gleichzeitig mit der am Absolutheitsanspruch des autonomen Kunstwerks
orientierten Ästhetik und öffnet das klassische Repertoire
einem freien und befreienden Umgang. Es gibt eine Vielzahl solcher
Praktiken, die von der Musikwissenschaft offensiv aufgegriffen und
in die gegenwärtige Praxis verändernd eingeführt
werden könnten. Ich brauche nur das riesige historische Feld
verloren gegangener Selbstverständlichkeiten für
die Aufführung der Musik des 19. Jahrhunderts anzutippen, um
die Dimension der Aufklärungsarbeit für die musikalische
Praxis zu veranschaulichen. Neben solche kompositorisch-aufführungspraktischen
Fragen könnte die heutige Konzertpraxis öffentlich zur
Debatte gestellt werden.
Die latente Krise des klassischen
Musiklebens heute
Von weit größerer Relevanz aber wäre ein Eingreifen
grundsätzlicher Art in die latente Krise des klassischen Musiklebens
heute. Lehrveranstaltungen, Tagungen, Podiumsdiskussionen, Veröffentlichungen
als Buch wie als Zeitungsartikel könnten diesem
Themenkomplex gewidmet sein.
Es ist erstaunlich und kaum verantwortbar, dass das Fach Musikwissenschaft
schweigt und auch im Stillen nicht handelt, während es selbst
Teil einer weit reichenden Identitätskrise der klassischen
Musikkultur ist. Musikforscher könnten Arbeitsgruppen einsetzen,
die die Lage der Musik innerhalb der gegenwärtigen Kulturszene
erforschen und Vorschläge ausarbeiten, wie den Gefährdungen
dieses kulturellen Bereichs begegnet und sein Weiterleben befördert
werden kann. Das wäre eine Facette einer sich als gegenwärtig
verstehenden Wissenschaft.
Mein Engagement und mein Handlungsvorschlag beruhen auf der Überzeugung,
dass der Bereich der klassischen Musik, vom Mittelalter bis zur
unmittelbaren Gegenwart und unter Einschluss des Jazz, ein unerschöpftes
Potenzial an Menschlichkeit, Selbstbestimmung, Toleranz und Glück
bereitstellt, Modelle für ein humanes Zusammenleben, für
die Lösung von Konflikten präsentiert, so dass es wert
ist, sich mit allen Fasern seines Denkens und Fühlens für
ein Weiterleben dieser Kultur einzusetzen. Wegen dieses Potenzials,
zutiefst betroffen von seiner Geistigkeit und Vitalität, bin
ich Musikwissenschaftler geworden.
Eine lebendige Zukunft
dieser Kunst
Eine lebendige Zukunft dieser Kunst aber beruht auf der Existenz
einer besonderen Species von ganz besonderen Individuen, die gehegt
und gepflegt, die aber auch in die Verantwortung genommen werden
sollten. Lassen Sie mich mein musikwissenschaftliches Räsonnement
enden mit einem Plädoyer für die Komponisten unserer Gegenwart.
Ohne stetige Erneuerung des klassischen Repertoires, ohne Neue
Musik in Permanenz ist unsere Musikkultur nicht lebensfähig,
würde sie zum bloßen Museum. Sie braucht, wir brauchen
diese Komponistinnen und Komponisten: Mundry, Sanchez-Verdú,
Werner und viele andere, jünger und älter; und sie brauchen
unser Verständnis; unser Vertrauen, unsere Förderung,
unsere Kritik.
Dieg nmz druckt die Rede von Reinhold Brinkmann zur Verleihung
des Ernst von Siemens Musikpreises in einer gekürzten Fassung.
Die Originalrede finden Sie unter: