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nmz-archiv
nmz 2001/09 | Seite 31
50. Jahrgang | September
ver.di
Fachgruppe Musik
Alles ist überschaut, die Entscheidung ist frei
Zwischen Bergen und Meer, Teil II Der Komponist Leon Schidlowsky · Von Errico Fresis
Teil I des Berichtes über den chilenischen Komponisten Leon Schidlowsky finden Sie in der neuen musikzeitung
Juli/August 2001. In dieser Ausgabe beschließt Errico
Fresis sein ausführliches Schidlowsky-Feature.
Der Geist von Südamerika ist in meiner musikalischen Spra- che wiederzufinden, dieses besondere
Etwas, das aus dem Dröhnen von riesigen Bergen, Erdbeben, Seen entstanden ist, so Schidlowsky.
Bei solchen Sätzen, muss ich sofort an das jüdische Konzept der Toraklula denken, der
unentfalteten Tora, der Ur-Tora: die vorbestehende Tora, für deren Beherbergung
die Welt erschaffen wurde und daher den Sinn der Welt selbst darstellt, wurde mit weißem Feuer
geschrieben, unsichtbar und unlesbar. Eine sinnliche Kenntnis können wir nur vom schwarzem Feuer,
die fixierte Tinte, haben.
Liebt ungewöhnliche Notation: Leon Schidlowsky
Das Etwas, das hinter das Aussprechliche und Erkennbare sich birgt, das ist was Schidlowsky suchte
und auch seine Schüler aufforderte, mit ihm zu suchen. Mein musikalisches und ideologisches Leben
hat in Chile begonnen. Dort habe ich Musik studiert und war Mitglied von Hashomer Hatzair (eine
links-orientierte zionistische Jugendorganisation) und dort fing die Rebellion gegen mein Geburtsland an. Ich
war Schüler von Free Focke, der mit Webern studiert hatte und mir die Tore zur Zweiten Wiener Schule öffnete.
Von der anderen Seite gab mir Hashomer Hatzair Antworten auf die existentiellen Fragen meiner Jugend.
Aus künstlerischen Gründen bin ich 1952 nach Deutschland gekommen, nachdem ich Musik, Philosophie
und Psychologie studiert hatte. Ich habe das geistige Vermächtnis von Benjamin, Adorno, Schönberg,
Tucholsky, Kafka, Trakl, Rilke, Kandinsky, Klee, Kokoschka absorbiert. Die zwiespältige Bindung Schidlowskys
mit Deutschland blieb auch später durch Einladungen des Deutschen Akademischen Austauschdienstes erhalten:
einige Jahre hielt sich Schidlowsky in Deutschland auf, wo manche seiner wichtigsten Kompositionen und Gemälde
entstanden.
Trotz der Einwände seines Freundes Nono zog er 1969 in das einzige Land, wo man als Jude frei leben
kann, Israel, wo er seitdem als Professor für Komposition an der Rubin-Akademie der Universität
in Tel Aviv tätig ist. Dort hielt er sich der Vermarktung fern und suchte eigene kompositorische Wege;
und dort lernte ich ihn vor fast 20 Jahren kennen. Das erste Mal besuchte ich sein Seminar an der dortigen Musikhochschule,
weil ich von seiner Persönlichkeit fasziniert war. In seinen intensiven Unterrichtsstunden eröffnete
er uns neue Welten und lehrte uns das Denken. Er kombinierte Analyse bis zur Erschöpfung mit seinem tiefen
Wissen über Literatur, bildende Kunst, Philosophie und Geschichte. Wir lernten, dass Musik ein politischer
Akt ist, der mit großer Verantwortung verbunden ist. Gleichzeitig öffnete er uns den Blick für
mystische Verbindungen. Bei der Arbeit am Repertoire war das Musizieren und das Wissen wie die Flamme
verbunden mit der Kohle eine Einheit von Ursache und Phänomen, die nicht gespalten werden
kann. Schidlowsky verdanke ich auch die Grundlagen der Dirigiertechnik er hat sie selber von Hermann
Scherchen gelernt.
Betrachtet man das reiche Schaffen Schidlowskys, nehmen seine grafischen Kompositionen einen sehr wichtigen
Platz ein. In einer grafischen Partitur kann man der Einheit des musikalischen Raumes (ein Prinzip, das natürlich
von der Flämischen Schule über Bach bis Schönberg nicht unbekannt ist) durch die Umwandlung des
mathematischen Raumes der konventionellen Notation zum geometrischen der grafischen Notation viel näher
kommen. Die Linearität ist nicht mehr vorhanden, die Tonhöhen sind nicht festgelegt, sondern durch
die geometrischen Verhältnisse subjektiv abzuleiten, genauso wie Dauer, Dynamik und Anschlag. Der Klang
selbst, seine Parameter und entstehende Strukturen sind im Gegensatz zur seriellen Praktik nicht mehr als absolut
zu betrachten.
Der Interpret wird vor neue Aufgaben gestellt: seine Vorstellungskraft und Kreativität sind unverzichtbare
Voraussetzungen. Der Interpret wird selber zum Mitschöpfer und das bei jeder einzelnen Aufführung
in einem für den klassischen Musikbetrieb ungewohnten Ausmaß. Synästhetische Fähigkeit
wird zur Grundlage eines Gesamtkunstinterpreten, der sich nicht mehr allein auf seine technische Fertigkeit
als Instrumentalist verlassen kann. Die geometrische Darstellung macht die Klangstrukturen ersichtlich, die
Farbe (die im späteren grafischen Werk Schidlowskys hinzugekommen sind) spielt eine zwingende Rolle, die
Freude an die Entdeckung des Planes hinter der Grafik ist ein Teil der Interpretationsarbeit, für die mehr
als musikalische Kenntnisse erforderlich ist. Das Zufallsprinzip der wissenschaftlichen Weltanschauung
wird hier mit dem metaphysischen Prinzip des schöpferischen Planes hinter dem Zufall in Verbindung gebracht.
Alles ist überschaut, und die Entscheidung ist frei, der Ausspruch des legendären Rabbi
Akiba, des Tannaiten, findet hier eine erstaunliche Umsetzung.
Schidlowsky lässt jedoch nicht zu, dass solche Konzepte zum Selbstzweck werden wie in der seriellen Musik,
die eine objektive Wahrheit beansprucht (damit auch bequemer wird, weil sie unkritisch der Umwelt gegenüber
bleibt). Schidlowsky lässt sein (im breiten Sinne) politisches Engagement durchblicken. Die sieben Grafiken
seines Werkes Deutschland, ein Wintermärchen sind ein nüchterner, kritischer Spiegel der
deutschen Gesellschaft der Nachkriegszeit. Und wenn in seine Missa sine nomine die Teilen der Liturgie
mit weltlichen Teile gegenübergestellt werden, bekommt das Beten einen neuen Sinn (wie Schidlowskys
geistiger Meister Arnold Schönberg wollte: beten zu lernen!). Dieses Werk fängt mit dem
Schöpfungskapitel der Genesis an. Dem anschließenden Kyrie folgt das Lied
(Text: George Grosz), Gloria wird von Chile erwidert. Und diese letztere Grafikpartitur
enthält ein Dokumentarfoto von chilenischen Milizen, die wehrlose Bürger schlagen. Dieses Foto ist
natürlich nicht im engeren Sinne musikalisch darstellbar und doch spielt es eine unverzichtbare Rolle für
den Interpreten. Und wenn Schidlowsky eine Passion komponiert, nennt er sie Greise sind die Sterne geworden
eine moderne Passion, mit Texten von Heine, Amos, Trakl, Lasker-Schüler, Joel, Kaléko,
Fried, Novalis und anderen.
Eine Passion, die nicht das menschliche Leiden sondern die Tragödie des Mensch-Seins thematisiert,
gespiegelt in der Poesie des 20. Jahrhunderts und in dem Buch der Bücher: Die Prophezeiung des Menschen
für den Menschen und durch den Menschen, wie Schidlowsky schrieb. Dafür war eine Musik notwendig,
die alle Tonhöhen, alle Rhythmen, alle Klangfarben und Harmonien, die unsere Seelen überfallen,
einschließen kann. Eine Musik, die den gesamten menschlichen Ausdruck umfasst.
Leon Schidlowsky, der Maler, hat in mehreren Ausstellungen auch in Deutschland sein malerisches und grafisches
Werk gezeigt: 1979 in der Staatsgalerie Stuttgart, 1980 im Künstlerhaus Hamburg, 1982 im Wilhelm Hack Museum
Ludwigshafen, 1993 in der Galerie im Hof Berlin/Bardowick, 1996 in der Stadtgalerie Saarbrücken. Falsch
wäre es, sich seinem Schaffen nur durch das grafische nähern zu wollen. Viele Werke in konventioneller
Schrift sind nicht minder wichtig. Daraus kann man einige finden, die seiner südamerikanischen Identität
entsprungen sind (wie Triptique, Amerindia und Amereida) oder seiner jüdischen
Identität (Kristallnacht, Babi Yar und Nacht) um nur manche
davon zu nennen. Im Jahr 1993 erfüllte er in Berlin eine Mizwa (Gebot, Pflicht): er komponierte
eine Oper ein Meisterwerk, das noch auf seine Uraufführung wartet Der Dibbuk
(nach An-Ski), in dem seine musikalische Welt sich mit der jüdischen Mystik vereint. Ein weiteres Meisterwerk,
das ebenfalls noch auf seine Uraufführung wartet, ist das 1998 komponierte Monodram Vor dem Frühstück
nach Eugene Neill, seine eigene Erwartung. Und ein Schlusswort ist dem Komponisten vorbehalten:
Ich nehme den Weg, den Luigi Nono gewählt hat: zuerst muss man etwas innerlich hören, erst dann
verschlüsselt man es in Zeichen. Man könnte es als meinen Expressionismus bezeichnen: eine Zeichensprache,
welche die Wirklichkeit so widerspiegelt, wie ich in sie mittels meiner eigenen Vision eindringe. Bei der schöpferischen
Arbeit bin ich fasziniert von der menschlichen Fähigkeit, unbewusst mit Elementen, die doch a priori als
bestimmt gelten, umzugehen.
Musik ist Politik, ist Engagement für das Leben der Menschen. Sie wird vom Menschen geschaffen, belebt,
mit dem Ziel, andere Menschen zu erreichen. Ich glaube, dass Kunst ein Weg zu uns selbst ist; schöpfend
habe ich gelernt, die Welt in mir auszudrücken, ohne Angst und ohne Kompromisse. Ich betrachte die Welt
in ständigem Erstaunen, trachtend, das Unzugängliche und Unerreichbare zu erreichen.