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nmz-archiv
nmz 2001/10 | Seite 8
50. Jahrgang | Oktober
www.beckmesser.de
Tilt!
Weiter so! hieß die Beckmesser-Kolumne
vom September, in der vermutet wurde, dass der allgemeine Betrieb wohl noch lange auf immer gleiche Weise
weiter klappere. Seit dem 11. September ist das anders. Der Kreis des Leerlaufs hat sich geöffnet, die
Routine ist unterbrochen, Angst und ein Blick ins Ungewisse sind an ihre Stelle getreten. Was gestern noch selbstverständlich
war und worauf man sich gedankenlos verlassen konnte, ist heute in Frage gestellt. Jeder ahnt, dass eine grundsätzliche
Neuorientierung in Gesellschaft und Kultur bevorsteht, doch die Richtung kennt keiner. Da-rüber kann auch
der Aktionismus der Militärs nicht hinwegtäuschen, die zum Zeitpunkt, da diese Kolumne entsteht, im
Rest-Pentagon vermutlich gerade beschließen, wie viele Tonnen Bomben sie auf Afghanistan und wie viele
sie auf den Irak abwerfen werden.
Das Ziel der Terroranschläge war neben der Tötung von Menschen und der materiellen
Zerstörung vor allem symbolischer Art. Sie trafen nicht nur zwei bedeutungsträchtige Institutionen,
sondern holten auch die modernen Angstfantasien, vor denen das kollektive Halbbewusstsein überquillt und
die von der Medienindustrie gnadenlos geschürt und ausgebeutet werden, auf brutale Weise ins Licht der
realen Erfahrung. Eine Aufklärung ganz besonderer Art. Kingkong über Manhattan und Einstürzende
Neubauten: Solche Visionen waren bislang ins Reich ästhetisierender und ironisierender Gruselvorstellungen
verbannt. Nun sind sie Wirklichkeit geworden. Überraschen sollte das eigentlich nicht. Gehört es doch
beispielsweise zu den Gemeinplätzen der neueren Musikgeschichte, dass die Atonalität der frühen
Wiener Schule oder die entfesselte Ritualität von Strawinskys Sacre eine genaue Vorahnung der
Katastrophe des Ersten Weltkriegs und des Endes einer kulturellen Epoche darstellten. Warum sollte der Horrorproduktion
Hollywoods dieses Wahrheitsmoment abgesprochen werden?
Unter dem Schock vom 11. September ist ohnehin ein Aspekt noch gar nicht richtig ins Bewusstsein gedrungen:
Hat irgend jemand im Ernst je geglaubt, die Türme Manhattans seien für die Ewigkeit gebaut? Es bedarf
keines Babylon-Mythos, um sich darüber klar zu werden, sondern nur eines kleinen Blicks auf die bunten
Postkarten mit den vielen pittoresken Ruinen, die wir an die Wand vor unserem Arbeitsplatz pinnen. Doch es gibt
einen Unterschied zu Rom, Athen und Mexico, und der liegt in dem, was für die Nachwelt übrig bleibt.
Anders als die heutigen Urlauber, die im T-Shirt durch die noch immer stabilen Steingewölbe des Colosseums
flanieren, werden die Touristen der nachamerikanischen Epoche die bizarren Trümmerlandschaften Manhattans
dereinst in luftdichten Gefährten durchqueren, weil die immensen Ablagerungen von Asbest, Dioxin &
Co. auf Jahrhunderte hinaus alles vergiften werden.
Natürlich sind wir noch nicht so weit, und die zwei Fragen, die uns vorerst noch lange beschäftigen
werden, lauten: Welches sind die Ursachen, und was kann man dagegen tun? Einfach machen es sich die pragmatischen
Scharfmacher, die jetzt den historischen Moment gekommen sehen, um abzurechnen mit allem, was den eigenen kulturellen
Schablonen und machtpolitischen Strategien zuwider läuft. Doch die Sachlage ist komplizierter, und die
Widersprüche beginnen schon bei ihrer Einschätzung. Der Terroranschlag auf das WTC sei ein Angriff
auf das, was unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhalte, war in den Medien alsbald zu hören. Das muss,
mit Verlaub, doch ein bisschen relativiert werden: Die Kraft, die unsere Gesellschaft trotz aller Konflikte
bisher noch zusammen gehalten hat, ist nicht die in den drei Buchstaben symbolisierte Macht der Wirtschaft und
auch nicht das Pentagon, sondern ein Wertesystem, das bereits etwas älter ist und immerhin auf eine rund
zweitausendjährige Tradition zurück blicken kann.
Vielleicht braucht es heute Machtdispositive wie die Doppeltürme und Fünfecke, um diese Tradition
zu retten, doch darüber mögen sich Wirtschaftsethiker und Moraltheologen streiten. Was uns alle aber
ein bisschen mehr angehen sollte, ist die Frage nach der Priorität. Die Attentäter haben es begriffen
und auf perverse Weise umgesetzt: Es kommt nicht auf die Zahl der Raketen oder die Schlagkraft der Unternehmen
an, sondern auf die Idee und auf die Überzeugung, mit der diese Idee vertreten wird. So lange das der Westen
nicht kapiert, wird er dem zerstörerischen Fanatismus nichts entgegen setzen können. Mit dem Projekt
der genetischen Manipulation von Lebewesen oder der computergesteuerten Verteilung der Finanzströme über
die ganze Welt lässt sich weder dem oberbayerischen Bauern noch dem koreanischen Büroangestellten
etwas vormachen. Die Menschen sind nicht so blöd, wie diejenigen meinen, die sich das alles ausdenken.
Sie warten auf substanzielle Vorschläge seitens der großmächtigen Lenker und Vordenker aller
Sorten. Bisher leider vergeblich.
Den hellhörigen Künstlern wächst in dieser Situation wieder eine neue Rolle zu. In Zukunft
wird Musik wohl wieder mehr darauf hin befragt werden, mit welchen Deutungen, Perspektiven und Antwortversuchen
sie auf die geistigen Probleme der Gegenwart, die nun ersichtlich globale Dimensionen annehmen, zu reagieren
vermag. Das Immer Mehr und Immer Origineller des kleineuropäischen Festivalzirkus, die beschleunigte Halbwertszeit
der uraufgeführten Werke, der stets raffiniertere Einsatz der Elektronik, das gekonnte Klangraumdesign,
der letzte intellektuelle Kick der Dekonstruktion: All das, was den heutigen Neue-Musik-Betrieb zu einem so
unterhaltsamen Gewusel von kleinen und großen Interessen, von Witz, Spielerei, Forscherdrang und künstlerischem
Ernst macht, muss sich wieder vermehrt der Frage nach dem Wozu aussetzen. Es ist eine Frage, die an die große
Musik der Vergangenheit, zumindest bis Alban Berg und Charles Ives, immer gestellt wurde und die Adorno
mit produktiver Wirkung auch noch 1954 an die Serialisten stellte. Technischer Fortschritt, Experiment
und Materialkritik sind keine autonomen Größen. Verlieren sie ihren Bezug zum tradierten Wertekanon,
so verliert das Kunstwerk seine gesellschaftliche Verbindlichkeit. Zur Klonmusik ist es dann auch nicht mehr
weit.