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nmz-archiv
nmz 2002/03 | Seite 12
51. Jahrgang | März
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Schubert
Der Frage, was an der neuen Musik denn eigentlich neu ist oder sein sollte, ist in jüngster Zeit vermehrt
Aufmerksamkeit zuteil geworden im Zusammenhang mit der Donaueschingen-Debatte gerade auch in der nmz.
Dabei nimmt die Suche nach einem wie auch immer beschaffenen Neuen gelegentlich Züge einer abstrakten Heilserwartung
an, die umso befremdlicher wirkt, als man sich die Rettung zumeist von positivistischen Größen wie
Material- und Raumanordnungen oder Wahrnehmungsgemeinplätzen erhofft, und dies paradoxerweise vor dem Hintergrund
der weit verbreiteten Meinung, dass aus dem Material und seiner Verarbeitung ohnehin nichts Neues mehr entstehe.
In der allgemeinen Desorientierung werden zugleich die Standards preisgegeben.
Pures Unvermögen wird dann nicht etwa als trauriger Beleg für die Stichhaltigkeit der Pisa-Studie
gesehen, sondern als Neuheit begrüßt. Es muss sich nur als fortschrittlich verkleiden. Wenn der Komponist
seine Finger-übung als Kritik an irgendwelchen Produktionsformen oder Denkstrukturen verkauft, stößt
auch noch der unbeholfenste Umgang mit dem Sinfonieorchester, einem bekanntlich ziemlich komplizierten Organismus,
beim Insiderpublikum auf wohlwollendes Interesse.
Das heute zum Fetisch gewordene Schlagwort neu war indes schon immer ein problematischer Begriff,
wenn es um Kunsturteile ging. Das wussten schon diejenigen, auf die man sich heute gedankenlos beruft. Charles
Baudelaire zeigt am Beispiel von Constantin Guys, dem Maler des modernen Lebens, dass sich das künstlerisch
Neue, das Moderne, im Ephemeren und in der Mode artikuliert. Doch in diesem zeitgebundenen Phänomen
erscheint für ihn das zeitlos Schöne. Den Begriff des Schönen fasst er somit dialektisch, gibt
ihn aber nicht preis, wie es heute vielfach geschieht.
Und bei Arnold Schönberg, der dem Begriff Neue Musik größte Skepsis entgegenbringt,
lesen wir in Stil und Gedanke: Es gibt kein großes Kunstwerk, das nicht der Menschheit
eine neue Botschaft vermittelt; es gibt keinen großen Künstler, der in dieser Hinsicht versagt. Dies
ist der Ehrenkodex aller Großen in der Kunst, und folglich werden wir in allen großen Werken der
Großen jene Neuheit finden, die niemals vergeht, sei sie von Josquin des Prés, von Bach oder Haydn,
oder von irgendeinem anderen großen Meister. Wohlverstanden: Schönberg spricht von neuer Botschaft
und nicht von neuer Materialbehandlung. Vielleicht benutzt er das Wort groß für den heutigen
Geschmack etwas zu häufig. Doch der Maßstab, den er setzt, ist nach wie vor gültig, trotz Internet
und Computer. Das wird mit guten Gründen verdrängt; legte man ihn an die heutigen Festivalprogramme
an, so gäbe es einen Skandal, der demjenigen der falschen Arbeitsamtstatistiken, auch hier gehts
ja um verschobene Maßstäbe, in nichts nach-stehen würde.
Die unbequemsten Fragen stellt uns jedoch noch immer der sanfte Umstürzler Franz Schubert. Seine Musik
steht quer zu jedem Materialdenken und scheint für das heutige Komponieren völlig unbrauchbar zu sein.
Doch entsteht bei ihm gerade aus der Gleichgültigkeit gegenüber der Materialinnovation Neues im Sinne
Schönbergs. Es hat, wie vor über dreißig Jahren Dieter Schnebel darlegte, mit dem Ton
der Musik und ihrem Verhältnis zur Zeit zu tun. In ihrem fluktuierenden Klang sieht Schnebel eine Seismografie
des inneren Lebens, und wenn sie wie aus der Ferne an unser Ohr dringt, verbinden sich in ihr unerledigte
Vergangenheit und noch nicht erfüllte Zukunft zum Bild der Utopie.
In Zürich ist derzeit eine ungewöhnliche Theateraufführung zu sehen, in der etwas von diesem
Schubertbild sichtbar wird: Die schöne Müllerin, inszeniert von Christoph Marthaler mit
acht Schauspielern, zwei professionellen Sängern (Rosemary Hardy, Christoph Homberger) und den auch szenisch
agierenden Pianisten Christoph Keller und Markus Hinterhäuser. Das Unbedingte von Schuberts Musik, ihr
Schwanken zwischen existenziellem Aufbäumen und Schicksalsergebenheit, der Sturz von Freude in Depression,
all das teilt sich im abgewetzten Interieur, das Anna Viebrock auf die Bühne gebracht hat, stärker
mit als in jeder Konzertaufführung vor festlicher Kulisse. Dem entspricht musikalisch die Brechung des
akademischen Schönklangs, wenn der ausgebildete Sänger vom singenden Pianisten und Schauspieler abgelöst
wird, wenn die Begleitung vom Konzertflügel zum verstimmten Klavier und zur Celesta wandert.
Mit einem Mal versteht man die hintergründigen Zusammenhänge zwischen der inneren Verlorenheit des
Ichs, von der diese Musik so unnachahmlich spricht, und der lähmenden Atmosphäre unter dem Metternich-Regime.
Und trotzdem leuchtet hinter der allgemeinen Tristesse und all den komischen Aktionen zur Auflockerung des Ernsts
immer wieder die Hoffnung auf ein besseres Leben auf. Schuberts Musik ist nicht umzubringen. Sie ist klangliches
Zeichen für das, was auch Nonos Prometeo als heimliches Leitmotiv durchzieht: die schwache
und doch unbesiegbare Kraft des messianischen Gedankens.
Eine packendere Neudeutung des reichlich zersungenen Liederzyklus ist schwer vorstellbar. Dazu passt das kleine,
aber charakteristische Detail, dass diese Marthaler-Produktion durch die Mitwirkung des Pianisten Christoph
Keller von einer Interpretationstradition profitieren kann, die für ein modernes Schubertbild Maßstäbe
setzte. Kellers Lehrer in Zürich war nämlich Sava Savoff, von dem Schnebel wesentliche Anregungen
für seinen bahnbrechenden Schubert-Aufsatz erhielt, und Savoffs Lehrer wiederum war Eduard Erdmann, der
vor bald einem Jahrhundert die große Klaviermusik Schuberts von allen Sentimentalismen befreite und am
Beginn der modernen Schubertinterpretation steht. Nebenbei spielte Erdmann auch ganz selbstverständlich
die neue Musik seiner Zeit: Berg, Schönberg, Krenek, Bartók, Busoni, und er war Komponist und gehörte
zu den Aktiven der ersten Stunde in Donaueschingen.
Traditionen gehen manchmal verschlungene Wege, und es lohnt sich, ihnen nachzuforschen. Dass diese neue Perspektive
auf Schubert nicht für das Konzertpodium, sondern von einem Theatermann (der mit aufgeweckten Musikern
zusammenarbeitete) erschlossen wurde, gibt einmal mehr zu Fragen über den Musikbetrieb Anlass. Das befrackte
Kammersängerwesen, wie man es von Festivals und Fernsehen her kennt, will oder kann solche Neudeutungen
offenbar nicht mehr leisten. Und hier schließt sich der Kreis: Die Schwierigkeit der Interpreten, die
alte und nach Schönberg doch immer neue Botschaft vom Müllerburschen glaubhaft in die Gegenwart hinüber
zu retten, ähnelt offenbar derjenigen der Komponisten bei der Formulierung ihrer Botschaften.