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nmz-archiv
nmz 2002/03 | Seite 36
51. Jahrgang | März
Oper & Konzert
Ausstellungsobjekt in einer Monstershow
Petitgirard: Joseph Merrick dit Elephant Man an der Staatsoper Prag
Sind die avantgardistischen Ansätze in der Oper tot? Der 1950 geborene französische Komponist Laurent
Petitgirard, der unter anderem auch Filmmusik zur Maigret-Fernsehserie geschrieben hat, tut sogar so, als hätte
es sie nie gegeben. Das große Gefühl war für ihn nie aus den Opernhäusern verschwunden
und Petitgirard hatte mit der Geschichte des so genannten Elefantenmannes einen zugleich gesellschaftskritischen
wie emotionsträchtigen Stoff gewählt. Die Schöne und das Biest oder Kasper Hauser mögen
Pate gestanden haben. Joseph Merrick, der Elephant Man jedenfalls hat heute Konjunktur.
Kolportiert wurde sogar, dass Michael Jackson seines Skeletts habhaft geworden war, was freilich nicht stimmt.
Aber das auf grotesk wie fatal erschreckende Krüppelwesen es soll geistig offenbar völlig wach
und feinfühlig gewesen sein, was die Erfahrung des Monströsen entscheidend vertieft zog in
den letzten Jahren als Schauspiel auf die Bühne, David Lynch verfilmte vor zwanzig Jahren seine Geschichte,
letztes Jahr tauchte es in London als Musicalgestalt auf. Letzte Überhöhung: die Oper. Denn unsere
Gesellschaft, die von medial getragener Sensationsgier und Paparazzi-Lust das Subjekt in die Enge einer allzu
offenen Öffentlichkeit drängt, verlangt danach.
Laurent Petitgirard versteht sein Geschäft. Von 1995 bis 1998 hat er an Joseph Merrick dit Elephant
Man komponiert, danach entstand eine CD, jetzt wurde sie an der Staatsoper Prag im Rahmen eines Frankreich-Projekts
(Opern aus dem 19., 20. und 21. Jahrhundert) uraufgeführt; in Koproduktion mit Nizza und Lübeck, wo
das Stück in diesem oder im kommenden Jahr nachgespielt wird. Kompositorisch bewegt sich Petitgirard dabei
in einem ausgesucht sicheren Fahrwasser. Ästhetisch liegen Binnenlandschaften eines Musicals zugrunde,
die Musik liebt die Emphase der kurzen Kantilenen und greift immer wieder auf für jedermann nachvollziehbare
leitmotivische Wendungen zurück. Der Gesang wird durchweg eins zu eins geführt, jede Silbe bekommt
einen Ton, die Linien sind schlicht und spontan nachsingbar geführt. Gleichwohl umschifft Petitgirard geschickt
die Klippen der Trivialität, obwohl sich die Musik beständig in dieser Landschaft tummelt. Denn das
Tempo stimmt, zügig wird die Story vom Leben Joseph Merricks erzählt. Er ist zunächst Ausstellungsobjekt
in einer herumreisenden Monstershow, dann gehört ihm das Interesse der Medizin. Die Krankenschwester Mary
lässt ihn menschliche Zuneigung, Liebe erfahren. Die Zeitung Times verschafft ihm sogar Reichtum und gesellschaftliches
Ansehen, ein goldener Käfig, den auch die intensiv mit dunkel getönten Farbwerten arbeitende Regie
von Daniel Mesguich herausstreicht (die Lagerstatt Merricks ist der umgebaute Käfig der Monstershow).
Das Timing also stimmt und hiermit hat Petitgirard eine der Haupthürden neuen Musiktheaters genommen. Die
tonal abgesicherte Musik macht den Text deutlich. Das farbig, meist ausgesucht sparsam mit rasterfahndungsartigen
Instrumentalcharakteren geführte Orchester unterstreicht die Gesangslinien, hebt sie in verschiedenen Schraffurmustern
hervor. Die Rhythmik mit griffigen metrischen Überlagerungsstrukturen hält alles am Laufen. Und Petitgirard
gelingt es, die Kargheit des Laufenden immer wieder so aufzumöbeln, dass Löcher oder ein Absacken
der Spannungskurven vermieden werden. Denn die Partitur ist wendig, nimmt Anleihen bei Poulenc bis Strawinsky,
schielt auf Gershwin, Phil Glass aber auch auf Ligetis Le Grand Macabre, und wahrt zugleich Eigenständigkeit.
Was die Bedingungen von Theatermusik sind, das ist Petitgirard immer bewusst. Und es ist Zeichen französischer
Abgeklärtheit, dass er diese nie in reflektorische Tiefen abzusenken sucht. Denn dafür ist die Story
(Libretto nach Originalberichten von Eric Nonn) selbst zuständig.
Es ist keine Oper, die visionäre Zeichen setzt, aber es eine, die den Betrieb illuster am Laufen hält.
Eine Koloraturarie einer Schauspielerin (Anna Ivanova Todorova), die ihre Kontakte zu Merrick der eigenen Karriere
nutzbar machen will, treibt in grotesk Exaltiertes, der Contraalt Merricks (eindringlich: Jana Sýkorová)
bildet menschlich-tragischen Humus. Petitgirard dirigierte selbst und er wusste das Orchester der Staatsoper
Prag, die in den letzten Jahren rege aus einem Schattendasein ausbricht, plastisch mit markanten Farbwerten
zu führen.