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nmz-archiv
nmz 2002/03 | Seite 26
51. Jahrgang | März
Pädagogik
Dem Spiel nach Noten effektiv auf die Sprünge helfen
Eine fertigkeitsorientierte Methode für den Anfangsunterricht am Instrument · Von Martin Gellrich
Wenn man gängige Instrumentalschulen durchsieht, fällt auf, dass in fast allen Schulen sofort mit
dem Spiel nach Noten begonnen wird. Dieser Anfang ist für die meisten Instrumentalschüler sehr schwierig,
da das Spiel nach Noten mehrere Teilfertigkeiten beinhaltet, welche die Schüler neu erlernen müssen.
Erstens muss der Schüler die Haltung des Instruments und die elementaren Spielbewegungen beherrschen. Zweitens
muss er sich, da die Augen auf den Notentext gerichtet sind, blind auf dem Instrument orientieren können.
Drittens muss er Tonhöhen und Rhythmen lesen können. Viertens muss er Noten in Griffe umsetzen können.
Fünftens muss er nach dem Lesen innerlich hören, was er gelesen hat. Sechstens muss er das innerlich
Gehörte in Griffe auf dem Instrument übertragen.
Voraussetzung hierfür ist natürlich, dass die innere Klangvorstellung bereits entwickelt ist. Darüber
hinaus muss sich der Schüler beim Spielen zuhören und das Gehörte im Gedächtnis behalten
können. Schließlich muss er noch vergleichen können, ob das Gespielte und im Gedächtnis
Behaltene mit der inneren Klangvorstellung kongruent ist. Nur so kann er eventuelle Spielfehler erkennen und
korrigieren. Das Schaubild zeigt noch einmal alle Teilfertigkeiten, die das Spiel nach Noten beinhaltet. Die
Zahlen bedeuten die Reihenfolge der Einführung der Fertigkeiten in den Unterricht, die anschließend
erläutert wird. Bei diesem Schaubild fällt auf, dass das Spiel nach Noten auf zwei Wegen funktioniert,
die beide gleichermaßen wichtig sind und bei jedem Schüler ausgebildet werden müssen: Erstens
wird das Gelesene direkt in Griffe umgesetzt und zweitens wird das Gelesene erst innerlich gehört und dann
gespielt. Richtigerweise wird die zuerst genannte Fertigkeit am Anfang des Spielens eines neuen Stücks
eingesetzt, während die zweite Spielart im fortgeschrittenen Übestadium aktiv ist.
Da das Spiel nach Noten so komplex und schwierig ist, kommen die meisten Instrumentalanfänger im Anfangsunterricht
nur langsam vorwärts. Außerdem bedienen sie sich häufig zweier Mogelstrategien. Die einen sind
die, wie C. A. Martienssen sie treffend nannte, mechanischen Greifer (Schöpferischer Klavierunterricht,
Wiesbaden 1954). Sie setzen gelesene Noten nur direkt in Griffe um und hören das Gespielte vor dem Greifen
nicht innerlich. Bei ihnen funktioniert das Spiel nach Noten nur nach dem mit Nr. 10 bezeichneten Weg. Das Spiel
nach Noten ist nicht über die musikalische Vorstellung vermittelt. Eine andere Gruppe von Schülern,
die von Natur aus über ein gutes Ohr und eine gute musikalische Vorstellung verfügen, sieht zwar in
die Noten, spielt aber in Wirklichkeit nach Gehör nach, was der Lehrer vorgespielt hat. Diese Schüler
lernen nur schwer das Notenlesen. Bei ihnen funktioniert das Spiel nur auf dem Weg Nr. 5 in dem Schaubild, obwohl
sie in die Noten zu sehen scheinen. Diese beiden Mogelstrategien führen dazu, dass das Spiel nach Noten
nur defizitär ausgebildet wird. Nicht selten haben diese Schüler, insbesondere die mechanischen Greifer,
auf längere Sicht gesehen Probleme beim Erlernen des Instruments, die oft zum frühzeitigen Abbruch
des Instrumentalspiels führen (vgl. Gellrich, Instrumentalausbildung an Musikschulen ein Haus ohne
solides Fundament, Üben & Musizieren 6/1996, S. 814).
Aus dem eben Gesagten lässt sich die Schlussfolgerung ableiten, dass im Anfangsunterricht auf dem Instrument
alle in dem Schaubild dargestellten Fertigkeiten zunächst einzeln systematisch entwickelt werden müssen
(Kästchen und Pfeile), bevor das Spiel nach Noten als komplexe Tätigkeit erlernt wird. Daraus lässt
sich ein Anfangsunterricht ableiten, der in Form von Modulen gestaltet ist, die zunächst parallel nebeneinander
entwickelt werden. Der Unterricht sollte folgende Elemente beinhalten:
Spiel von Fingerübungen und anderen Übungen zum Erlernen des Spielens auf dem Instrument (1).
Die Übungen werden ohne Noten gespielt mit Konzentration auf die korrekte Haltung, die korrekte Ausführung
von Spielbewegungen und die richtigen Fingersätze. In den allerersten Stunden, solange das Spiel nach
Gehör noch nicht funktioniert, werden auch einfache Liedchen ohne Noten ein-studiert, indem der Lehrer
einfach die Töne zeigt und vorspielt und der Schüler das Vorgespielte nachmacht.
Übungen zur Stärkung der Tonhöhenvorstellung (2). Hierzu gehört das Singen und speziell
die relative Solmisation, des Weiteren einige weitere Übungen aus dem Bereich der Rhythmik, die ich an
anderer Stelle beschrieben habe (nmz 3/1999, S. 29).
Übungen zur Stärkung der Rhythmusvorstellung und des Rhythmusgefühls (2). Hierzu gehören
Übungen, bei denen Rhythmen mit Mund, Hand und Füßen dargestellt werden. Beispielsweise wird
der Grundschlag geklatscht. Das Zweischlagmetrum durch das Laufen dargestellt. Dazu wird ein Rhythmus gesprochen
oder gesungen.
Improvisation: Mit dem Material der Fingerübungen und den Elementen aus den gespielten Stücken
wird improvisiert. Das Improvisieren ist erstaunlicherweise auch zum Erlernen des Spiels nach Noten notwendig,
weil so am besten das Zuhören beim eigenen Spielen trainiert wird (3) und gleichzeitig das musikalische
Gedächtnis verbessert wird (4).
Etwas später folgt das Spiel von Liedern nach Gehör, die zuvor gesungen wurden (5). Diese Lieder
sollten möglichst nur Tonverbindungen enthalten, die schon in Form von technischen Übungen vorgeübt
wurden. Wenn die Lieder technisch zu schwierig sind, haben weniger begabte Schüler Probleme mit dem Spiel
nach Gehör. Das Spiel nach Gehör trainiert zudem das Sich-Zuhören (3), das Bewerten (6, 7,
8) und das Korrigieren von Spielfehlern.
Noch etwas später setzt nach der Einführung der Notenschrift das Spiel nach Noten ein. Es werden
Stücke nach Noten einstudiert (10). Zuerst wird das Lesen und Spielen der Tonhöhen gelernt und nur
das Lesen der wichtigsten Notenwerte erklärt. Der Rhythmus wird anfangs, wenn er komplizierter ist, vom
Lehrer vorgemacht und nach Gehör gespielt.
Parallel dazu beginnt das Blattspiel (10). Das Blattspiel von unbekannten Stücken ist notwendig, weil
Schüler mit einer guten musikalischen Vorstellung sonst nicht richtig Noten lesen lernen, sondern nach
Gehör spielen, auch wenn sie in die Noten sehen. Blattspielübungen sollten rhythmisch zunächst
einfach gehalten werden.
Flankierend werden noch Übungen zum Blattsingen durchgeführt, um zu lernen, das Gelesene in eine
innere musikalische Vorstellung zu übertragen (11). Hierbei spielt wiederum die relative Solmisation
eine Schlüsselrolle.
Ergänzend sollte auch das Notenschreiben in den Unterricht integriert werden. Es bietet sich an, Stücke,
die nach Gehör gespielt werden, Finger-übungen oder Improvisationen vom Schüler aufschreiben
zu lassen, wobei zunächst nur die Tonhöhennotation und die Notation einfacher Notenwerte geübt
werden sollte.
Das Lesen und Verstehen komplizierterer Rhythmen erfolgt später, am besten im Alter von zehn bis zwölf
Jahren. Vorher können kompliziertere Rhythmen nur korrekt mittels Rhythmussprachen gelesen werden.
Die Teilbereiche 1 bis 4 werden ab der ersten Unterrichtsstunde systematisch behandelt. Zu jedem Teilbereich
wird mindestens eine Übung (bei den Fingerübungen mehrere Übungen) durchgenommen und eine Hausaufgabe
gestellt. Etwas später folgen nacheinander die restlichen Bereiche. Mit der Einführung der Notenschrift,
also dem Spiel nach Noten und dem Blattspiel sollte nicht zu lange gewartet werden!
Die verschiedenen Teilfertigkeiten des Instrumentalspiels werden nun parallel zueinander entwickelt, wobei
der Schüler bei den technischen Übungen immer am weitesten sein sollte. Da nicht immer genügend
Zeit ist, um alle Teilbereiche in einer Unterrichtsstunde durchzunehmen, sollten einige weniger zeitaufwändige
Teile, wie etwa Notenschreiben oder Singen nach Noten nur zeitweise in den Unterricht integriert werden.
Selbstverständlich bietet es sich an, Querverbindungen zwischen den einzelnen Teilen herzustellen. Beispielsweise
werden Lieder auf dem Instrument gespielt, die vorher gesungen wurden. In gleicher Weise können technische
Übungen aus Elementen von Liedern bestehen. Ebenso können in Improvisationen Elemente von technischen
Übungen und gesungenen oder nach Gehör gespielten Liedern eingebaut werden. Wie man sieht, ist die
hier besprochene Methodik des Anfangsunterrichts sehr breit angelegt. Da sie auch Übungen zur Förderung
grundlegender musikalischer Fertigkeiten enthält (Singen, relative Solmisation, Rhythmusschulung, Blattsingen),
führt sie auch bei weniger begabten Schülern zum Erfolg.
Die hier vorgestellte Methode unterscheidet sich von der Systematik normaler Instrumentalschulen in einigen
wichtigen Punkten. Bei diesen ist zumeist der Stoff systematisch gegliedert, es fehlt aber die Gliederung nach
verschiedenen Teilfertigkeiten, die systematisch nebeneinander entwickelt werden. Auch unterscheidet sie sich
dadurch, dass dem Bereich der Spieltechnik eine große Bedeutung zugemessen wird. In diesem Punkt basiert
sie auf der im 19. Jahrhundert üblichen Methodik, wo im Anfangsunterricht ebenfalls die Ausbildung der
Spieltechnik im Vordergrund stand (vgl. Gellrich, Üben mit Lis(z)t. Wiederentdeckte Geheimnisse aus der
Werkstatt der Klaviervirtuosen, Frauenfeld 1992). Weiterhin ist noch auffällig, dass das genaue Lesen und
Verstehen von komplizierteren Rhythmen relativ spät erlernt wird. Dies liegt daran, dass Schüler erst
im Alter von zehn bis zwölf Jahren das für das Verstehen der Notenschrift notwendige Bruchrechnen
mit Zeiteinheiten verstehen. Schließlich ist noch auffällig, dass die Methodik des Spiels nach Noten
auch Teilfertigkeiten enthält, die auf den ersten Blick gar nichts damit zu tun haben: Singen, Spiel nach
Gehör, Improvisation, relative Solmisation, Singen nach Noten und Noten schreiben. Hierbei handelt es sich
also nicht um wünschenswerte, aber verzichtbare Teilfertigkeiten des Instrumentalunterrichts, sondern um
unverzichtbare Basisfertigkeiten des Spiels nach Noten.