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nmz-archiv
nmz 2002/03 | Seite 16
51. Jahrgang | März
Portrait
Ein großer Umbruch, aber kein Neuanfang
Porträt, Bestandsaufnahme, Visionen: Fünfzig Jahre Knabenchor Hannover
Vor wenigen Wochen ist in Hannover eine Ära zu Ende gegangen. Heinz Hennig, Gründer und über
fünfzig Jahre lang Leiter des Knabenchores Hannover, starb am 29. Januar im Alter von 74 Jahren. Nur wenige
Tage zuvor hatte er sein Amt an den erst 29-jährigen Jörg Breiding weitergegeben. Auf den studierten
Musik- und Gesanglehrer kommt eine Aufgabe zu, die es in sich hat. Er ist als künstlerischer Leiter des
Knabenchores nicht nur für ein international anerkanntes Ensemble verantwortlich, sondern auch für
eine regelrechte Sing- und Musikschule, in der mehr als zweihundert Knaben und Jugendliche von mehreren Mitarbeitern
betreut werden.
Heinz Hennig bei einer Aufnahmeprüfung. Foto: Archiv Knabenchor Hannover
Der Knabenchor Hannover ist, verglichen mit anderen bedeutenden Ensembles dieser Art in Dresden, Leipzig oder
Regensburg, vergleichsweise jung. 1950 gründete der damals 23-jährige Hennig den Chor unter materiell
schwierigsten Bedingungen. Er knüpfte dabei vor allem an seine eigenen Chorerfahrungen aus der Zeit am
Frankfurter Musischen Gymnasium an, wo er als Schüler von Kurt Thomas bereits künstlerisch prägende
Anregungen erhielt. Schon bald entdeckte Hennig, dass er das richtige Fingerspitzengefühl besitzt, um Kinder
ohne unnötigen Druck zu erstaunlichen Leistungen zu führen. Neben dem beruflichen Werdegang als Professor
für Chorleitung an der Musikhochschule in Hannover, wo er zuletzt auch das Amt des Vizepräsidenten
innehatte, baute Hennig quasi nebenberuflich den Knabenchor Hannover auf.
Die ersten künstlerischen Erfolge ließen nicht lange auf sich warten. Alfred Koerppen, Freund und
Weggefährte Hennigs, komponierte 1951 für den Chor eine Jugendoper mit dem Titel Virgilius,
der Magier von Rom, die beim ersten Sängerfest in Frankfurt am Main viel Aufsehen erregte. Schon
bald kristallisierte sich dann der eigentliche künstlerische Schwerpunkt des Knabenchores heraus: die Alte
Musik. Lange vor dem großen Boom trat der Chor aus Hannover mit wegweisenden Interpretationen hervor.
Kooperationen mit Ton Koopman, Philippe Herreweghe und dem Hilliard Ensemble markieren den Weg des Chores. Das
vom Umfang her größte Projekt überhaupt war die Mitwirkung an der Gesamteinspielung der Bach-Kantaten
unter der Leitung von Gustav Leonhardt und Nikolaus Harnoncourt. Eine besondere Herzensangelegenheit bedeutet
Hennig die Musik von Heinrich Schütz, die er in ihrer einzigartigen Kunst des Sprachausdruckes aus gutem
Grund für pädagogisch besonders wertvoll hielt. Für die Einspielung der kompletten Geistlichen
Chormusik 1648 erhielt der Knabenchor 1985 den Preis der Deutschen Schallplattenkritik, weitere Schütz-Aufnahmen
wurden in Frankreich mit dem Diapason dor ausgezeichnet. Um diesen Kern herum fächert sich das Repertoire
des Chores von Werken des 16. Jahrhunderts bis hin zur französischen Spätromantik oder zur Moderne
auf. Selbstverständlich spielt auch die Aufführung großer Oratorien und Messen in der Konzertpraxis
des Chores eine wichtige Rolle. Im Jahr 2000 feierte der Chor sein 50-jähriges Bestehen, unter anderem
mit einer Aufführung von Bachs Matthäuspassion gemeinsam mit dem Thomanerchor Leipzig.
Anders als dieser und andere berühmte Knabenchöre ist das Ensemble aus Hannover kein Internatschor.
Die Kinder kommen zweimal in der Woche nachmittags zu Proben in das Chorheim. Wer in Hannover zur Schule geht,
aber außerhalb wohnt, kann dort auch die Mittagszeit verbringen. Es gibt eine Küche und Freizeitmöglichkeiten.
Da die Kinder nur vergleichsweise kurze Zeit für Proben zur Verfügung stehen, hat der Knabenchor ein
besonders effizientes System aus Kursen und Chorgruppen entwickelt, in denen die sechs- bis siebenjährigen
Knaben systematisch an das Singen herangeführt werden und zugleich eine umfassende musikalische Grundausbildung
erhalten.
Das Angebot muss stimmen, damit die jungen Sänger bei der Stange bleiben. Im Knabenchor wird viel von
ihnen verlangt, aber auch viel geboten. Konzerttourneen, Freizeiten und regelmäßige Auslandsreisen
gehören dazu. Als musikalischer Botschafter hat der Knabenchor Hannover bis auf Australien alle Kontinente
bereist, zumeist mit Unterstützung des Deutschen Musikrates. Schon lange vor dem Fall des eisernen Vorhangs
ging es durch Osteuropa, nach Israel und Jordanien, nach Südafrika, nach Süd- und Mittelamerika
dies alles mit vergleichsweise geringem Personalaufwand. Die erwachsenen Sänger der Männerstimmen
betreuen auf Reisen jeweils einen oder zwei Knaben eine Regelung, die für das familiäre Miteinander
in der Chorgemeinschaft spricht.
Trotz der Schwierigkeiten, mit denen Knabenchöre wegen des heute so früh einsetzenden Stimmbruchs
zu kämpfen haben, ist es Hennig kontinuierlich gelungen, einen klanglich gut ausbalancierten und zuverlässigen
Konzertchor aufs Podium zu bringen. Und das, obwohl der Chor in Hannover weitgehend auf sich gestellt ist: Er
ist weder an eine Kirche noch an eine andere finanzkräftige Institution angebunden, sondern lebte bis vor
kurzem von mageren öffentlichen Zuschüssen, von Spenden und selbst eingespielten Honoraren. Dass dieser
Zustand nach dem altersbedingten Rückzug von Heinz Hennig zu einem großen Problem werden könnte,
war vor allem einem klar: ihm selbst. Deshalb begann der Chorleiter schon vor einigen Jahren damit, Interessenten
für eine Stiftung zu suchen, die die zukünftige Arbeit des Chores auf eine solide finanzielle Basis
stellen sollte. Sein Werben für das Fortbestehen einer künstlerisch wie pädagogisch wichtigen
Einrichtung hatte Erfolg. 1998 wurde unter Beteiligung namhafter Unternehmen der Stifter- und Förderkreis
Knabenchor Hannover e. V. gegründet. Die Erträge aus dem derzeitigen Stiftungskapital von drei
Millionen Mark reichen zwar noch nicht aus, um die Arbeit des Chores zu finanzieren, aber sie bilden zumindest
eine verlässliche Basis.
Ein derartiges Finanzierungsmodell dürfte im Bereich kultureller Institutionen bislang die Ausnahme sein
vielleicht eine mit Beispielcharakter. Ein anderes innovatives Vorhaben scheiterte allerdings: Knabenchor
und Musikhochschule Hannover hatten geplant, für den Nachfolger Hennigs zugleich eine Stiftungsprofessur
zu schaffen. Da sich beide Seiten nicht auf einen Kandidaten einigen konnten, ist Jörg Breiding nun zunächst
einmal nur Leiter des Knabenchores Hannover. Welche Verantwortung er damit übernommen hat,
weiß er. Aber er weiß auch, worauf er aufbauen kann, und hat verkündet, dass er am künstlerischen
Profil und am musikpädagogischen Konzept des Chores zunächst nichts Wesentliches ändern wird.
Burkhard Wetekam
Der Autor ist Verfasser des Buches Knabenchor Hannover,
Verlag der Buchdruckwerkstätten, ISBN 3-89384-040-0.