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nmz-archiv
nmz 2002/03 | Seite 17-18
51. Jahrgang | März
Rezensionen
Zeit und Raum
Cerha-Dokumente in ORF-Edition Zeitton
Seit einigen Jahren engagiert sich der Österreichische Rundfunk mit einer sporadisch erscheinenden Zeitton-Edition
auf dem hart umkämpften Markt der Compact Disc. Genutzt werden zu diesem Zweck zu großen Teilen Aufnahmen
aus dem eigenen Archiv, für die Abrundung und natürlich auch zur personellen Aufwertung werden aber
auch Produktionen (Mitschnitte) anderer Veranstalter miteinbezogen, soweit diese dem jeweiligen Vorhaben günstig
gesonnen sind, beziehungsweise dessen mögliche Marktanteile nicht mit den eigenen kunstkommerziellen Zielsetzungen
kollidieren. Ein großer Teil dieser Publikationen konzentrierte sich bisher mit einigem Erfolg,
darf man hinzufügen auf die mediale Protektion von lebenden Komponisten, deren Werke ja nicht nur
in Österreich bis auf wenige Ausnahmen nur schwach im aktuellen Schallplattenkatalog vertreten sind.
Komponist, Geiger, Dirigent und musikmoralische Autorität: der Österreicher
Friedrich Cerha. Foto: Charlotte Oswald
Eine Rundfunkanstalt wie der ORF leistet auf diesem Wege Aufklärung seines Publikums und Werbung für
die entsprechenden Komponisten, sie engagiert sich aber auch im eigenen Interesse, indem sie nämlich auf
dokumentarische Leistungen aufmerksam macht, die noch bis in die publizistisch streng reglementierten 80er-Jahre
irgendwo in den Archiven gehortet blieben, bestenfalls im täglichen Sendeprogramm einmal kurz und dann
zu spätester Stunde unter Ausschluss der Öffentlichkeit nachgespielt wurden. Die zu
begrüßenden Initiativen auf dem Tonträgermarkt auf der Basis eines gut organisierten Eigenvertriebs
(Direktversand) und in wachsender Kooperation mit professionellen, international vernetzten Vertriebsinstitutionen
dienen also nicht nur einer wertschöpfenden Bilanzkorrektur, sondern stellen eine kulturgeschichtliche
Leistung im Sinne von Minderheitenförderung und ästhetischer Pluralität dar, denn nicht wenige
der auf solche Weise geehrten Autoren durften von einer einzig auf ihre Stücke konzentrierten Compact Disc
nur träumen es sei denn, sie produzierten sie in Eigenregie, was ja heute ein Kinderspiel ist, doch
für den Wettbewerb im Konzert der Anbieter fehlt es dann zwangsläufig an geeigneten Verteilerstrukturen
und damit auch an öffentlicher Resonanz.
Vor diesem medienpolitisch aktuellen Hintergrund ist jenes umfangreiche, ehrgeizige Projekt des ORF zu sehen
und zu hören, das in einer kleinen Feierlichkeit am Rande der Salzburger Festspiele 2001 einer ausgewählten
Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Vom Umfang her sprengt die auf immerhin zwölf CDs das Schaffen und
Wirken Friedrich Cerhas reflektierende Edition den Rahmen aller vorangegangenen Zeitton-Vorhaben. Und auch inhaltlich
ist sie von einer Dichte und Tragweite, wie man sie in annähernd vergleichbaren, also personenbezogenen
Anthologien nur selten erlebt hat. Umso rätselhafter erscheint es deshalb, warum die schonungslos eigenwilligen,
dabei auch unterhaltsamen, in einer fabelhaften Mischung aus Intelligenz, handwerklicher Brillanz, materialspezifischer
Abenteuerlust, Melancholie und bodenständigem Witz geborenen Werke verschiedenster Schaffensperioden bislang
nur ausnahmsweise auf Tonträgern in den Handel gelangt sind. Die weiter unten im Anschluss an die Zeitton-Titel
angeführten Veröffentlichungen (vgl. S. 18) zeigen, wie schmal das offizielle Cerha-Repertoire geblieben
ist, wobei nicht nur das Missverhältnis von schöpferischer Qualität und Quantität des Dokumentierten
zu denken gibt, sondern auch die Tatsache, dass der 75-jährige, aus Wien stammende Uhl- und Prihoda-Schüler
in Österreich und in der Welt nun schon viele Jahrzehnte als Komponist, als Interpret und als musikmoralische
Autorität unterwegs ist. Nicht zuletzt als Mitbegründer des 1958 formierten Ensembles die reihe,
als Geiger und als Dirigent seiner eigenen und der Werke längst anerkannter oder zeitgenössischer
Komponistenkollegen. Es handelt sich mithin um eine jener Karrieren, die in einer seltsamen Ambivalenz aus öffentlicher
Gegenwärtigkeit und Zurückgezogenheit, ja Unerkanntheit einen geraden Weg bezeichnen, dessen Steigungswerte
die etwas weitläufiger interessierte Musikwelt erst zu einem späten Zeitpunkt zu realisieren scheint.
Eine der Hauptstationen auf diesem Weg zur Anerkennung und zu gründlicher Auseinandersetzung mit dem Phänomen
Cerha war 1981 zweifellos die Oper Baal im Auftrag der Salzburger Festspiele unter der musikalischen
Leitung von Christoph von Dohnányi. Der ORF-Mitschnitt mit Theo Adam in der Titelpartie wurde bereits
auf Schallplatten herausgegeben, aber in einer etwas graumausigen Verpackung und in Wahrheit an den Lebensadern
des Markes vorbei geplant, sodass zu hoffen ist, dass Cerhas ungemütliche Vertonung des uralten, zeitlosen
Stoffes im Rahmen der vorliegenden Zeitton-Kassette verstärkten Widerhall findet. Dabei wird es von großem
Nutzen sein, ein kräftiges, intellektuell scharfes, in den entscheidenden Passagen aber auch sehr sinnliches
Stück wie Baal im Kontext zu Cerhas frühen Vokalarbeiten (dem Buch von der Minne
etwa), im analysierenden Vergleich zu seinen seriellen Selbstbeschränkungen und Sportlichkeiten oder auch
in Gegenüberstellung mit einem provokanten, völlig unbotmäßigen Projekt wie dem Netzwerk
für Sprecher, Bariton, Koloratursopran und Instrumentalisten zu erleben. Hilfreich dabei ist die übersichtliche
Anordnung von Cerhas Kompositionen in einzelnen Rubriken, deren Mottos (wie etwa Klangkompositionen
oder Engagement und Tradition) sich nicht nur als leichtfertig angeklebte Etiketten erweisen, sondern
als Spiegelungen lebens- und musikpraktischer Erwägungen und Experimente unter ganz speziellen Bedingungen.
Die zwölf CDs werden in einem Schuber geliefert, versehen mit einer ausführlichen Begleitschrift,
die im Wesentlichen Originaltexte Cerhas enthält und damit für ein Höchstmaß an Authentizität
bürgt. Cerha erweist sich hier als ein gewiefter, gelegentlich auch verschmitzter Mann des Wortes. Nicht
nur in eigener Sache, auch in erhellender Präzision, was die Diagnose eines Jahrhunderts und die Beurteilung
seiner Lehrer, seiner Komponistenkollegen und das Erbe der Vergangenheit anbetrifft. Besetzungen und Daten der
jeweiligen Aufnahmen bis hin zum wienerischen Ausklang mit Cerhas fulminant ätzender Keintate auf Wiener
Sprüche von Ernst Klein, bis hin zu neueren Kammermusikstücken und Orchesterwerken aus den frühen
90er-Jahren entsprechen den Bedürfnissen von Statistik und Sammlerinteressen. Leider konnte oder wollte
man sich seitens des Herausgebers nicht dazu entschließen, Angaben zu den Werken und ihren Interpreten
auch den einzelnen CDs beizufügen, sodass man immer wieder umständlich das Begleitbüchlein aufschlagen
muss.
Peter Cossé
Diskografie
Cerha-Dokumente
CD 1 Frühwerke: Ein Buch von der Minne, Divertimento für acht Bläser und Schlagzeug, Zehn
Rubaijat des Omar Chajjam (1. Buch), Klavierkonzert; Werner Krenn (Tenor), Klaus Christian Schuster, Thomas
Larcher (Klavier); Radio Symphonie Orchester Wien; Ltg. Friedrich Cerha, Dennis Russell Davies
CD 2 Serielle Werke: Espressioni fondamentali, Relazioni fragili, Intersecazioni; Florian Müller (Cembalo),
Ernst Kovacic (Violine); Klangforum Wien, Radio Symphonie Orchester Wien; Ltg. Friedrich Cerha
CD 3 Klangkompositionen: Mouvements I, II und III, Fasce, Spiegel I, VI und VII; Klangforum Wien, Radio
Symphonie Orchester Wien; Ltg. Friedrich Cerha
CD 4 Engagement und Tradition: Und Du..., Verzeichnis, Langegger Nachtmusik I; ORF Chor, Ensemble die
reihe, Radio Symphonie Orchester Wien; Ltg. Friedrich Cerha, Erwin Ortner
CDs 5 und 6 Musiktheater / Netzwerk: Netzwerk (Teile IIII / 19821980); Mircea Mihalache, Neven
Belamaric, Wolfgang Dosch u.a. (Sprecher), Arthur Korn (Bariton), Donna Robin (Koloratursopran); Ensemble
die reihe; Ltg. Friedrich Cerha
CDs 79 Musiktheater: Baal; Theo Adam, Helmut Berger-Tuna, Marjana Lipovsek, Martha Mödl, Heinz
Helecek und viele andere; Wiener Philharmoniker, Christoph von
Dohnányi
CD 10 Wienerisches: Keintate, Eine Art Chanson für einen Chansonnier; Heinz Karl Gruber (Chansonnier),
Kurt Prihoda (Schlagzeug), Rainer Keuschnig (Klavier), Josef Pitzek (Kontrabass), Friedrich Cerha und Freunde
CD 11 Neue Kammermusik: Streichquartett Magam, Saxophon-Quartett, Achte Sätze nach Hölderlin-Fragmenten
für Streichsextett; Cherubini Quartett, Wiener Saxophon-Quartett, Arditti String Quartet, Thomas Kakuska,
Valentin Erben
CD 12 Neue Orchesterwerke: Langegger Nachtmusik III, Phantasiestück in Cs Manier für Violoncello
und Orchester, Impulse; Heinrich Schiff (Cello), Wiener Philharmoniker, Radio Symphonie Orchester Wien; Ltg.
Pierre Boulez, Friedrich Cerha
Streichquartett
Nr. 3 (3. Satz); Arditti String Quartet; UE-CD zum 90. Geburtstag von Alfred Schlee
Baal-Gesänge;
Theo Adam (Bariton); Gewandhausorchester Leipzig; Ltg. Kurt Masur; Berlin Classics 2072-2
Requiem
der Versöhnung: Introitus und Kyrie; Gächinger Kantorei, Israel Philharmonic Orchestra; Ltg. Helmuth
Rilling; Hänssler 98.931
Spiegel
II; SWF-Sinfonieorchester Baden-Baden; Ltg. Ernest Bour; col legno 31899
Slowakische
Erinnerungen aus der Kindheit (Ausschnitt); Josef Mayr (Klavier); Extraplatte 388/2