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nmz-archiv
nmz 2002/09 | Seite 43
51. Jahrgang | September
Jazz, Rock, Pop
Gegen den Strom
Kreativität unter den Hammer
In der Hölle ist der Teufel los. Selbst die altehrwürdige
Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt inzwischen in ihrer Sonntagsbeilage
(!) lieber kumpelhaft und verständnisvoll über norwegische
Satanisten in der Rockmusik als über die Erben John „Imagine“
Lennons. Das Böse im Sinne einer wachsenden Inhumanität
ist postmodern, jeder ist sich selbst der Nächste oder wie
der Jugendforscher Klaus Farin anmerkt, „asozial ist in“.
Dementsprechend wird nun die kalte Kosten-Nutzen-Rechnung zur alles
beherrschenden neuen Glaubenslehre, von Menschen und Musen mag keiner
mehr sprechen, der Geldspeicher will gefüllt werden. Die letzte
Shell-Jugendstudie beweist, wie der Weg der Jüngeren sich nun
dementsprechend verengt: Leistung, Sicherheit, Macht und Einfluss
sind wichtiger geworden. „Karriere und Familie schließen
sich bei den meisten heute nicht mehr aus“, bemerken die Autoren.
Letzteres macht deutlich, wie falsch dieser vermeintliche tolle
Weg sein kann, den zum Beispiel die Norddeutsche Rundschau jubilierend
begleitet: „Null Bock war gestern: Die Jugend packt‘s
an... Optimismus und Leistungsbereitschaft bei junger Generation.“
Letzteres en detail: Kinder werden kaum noch erzogen, sondern abgeschoben,
Omas, Kindergärten und Lehrer sollen sich nach der Geburt um
den Rest kümmern, die Kohle-Eltern schieben gelegentlich mal
Scheine Richtung Nachwuchs. Sorry, Mammi hat keine Zeit, sie muss
Karriere machen. Diese Kosten-Nutzen-Generation wägt ab und
kalkuliert: CD im Laden kostet Geld, im Internet aber gar nix und
der geloadete Klon lässt sich auf dem Schulhof hehlermäßig
zu Kohle machen. Andere Studien ergänzen: Nur noch sechs Prozent
der musikinteressierten Jugendlichen spielen dauerhaft ein Instrument
und selbst das passive Hören ist auf dem Rückzug.
Die Generation Cash ist dabei aber nur ein Abbild der Gesellschaft,
die zunehmend Werte vernichtet und sich einen Dreck um Verantwortung,
Zukunft und Soziales kümmert. Wer in den „Rat Races“
vorne liegt, der hat es geschafft; nur noch um oberflächliche
Signale geht es. Der Sänger der Erfolgsgruppe Orange Blue,
Volcan Baydar, im Interview nach der Veröffentlichung des neuesten
Chart-Verkaufsschlagers: „Inzwischen kann ich mir einen gewissen
Luxus leisten, ich fahre Jaguar.“ Darüber spricht man
heute, so ist die Welt. Rapper Nana sagte in einem Interview: „Musik
ist gut, wenn man sich entspannen will.“ Dieses uraltbackene
Vokabular spricht Bände. Mit Musik geht nirgends mehr das Licht
in den Köpfen an, sie ist Dienstleistung und Klangtapete in
einem unruhigen Leben, wo man auf der Jagd nach Beute höchstens
noch die schnellen Beats per Minute gebrauchen kann. Neben den eher
unkreativen Leistungswerten der Gesellschaft wächst weiter
auch die Gewalt an, in den Schulen, in Jugendzentren, auf der Straße.
Der US-Militärpsychologe Dave Grossmann veröffentlichte
jetzt das Buch „Wer hat unseren Kindern das Töten beigebracht?“,
darin beschreibt er den Zusammenhang zwischen brachialen Killer-Games,
die die Medienindustrie heute weltweit in die Kinderzimmer bringt,
und den häufiger werdenden Amokläufen an den Schulen.
Sein Fazit: „Es ist eine ganze Kultur der Gewalt entstanden,
ein neues, medial vermitteltes Produkt.“ Der Verlust von Moral
ging dem voraus. Wer unmittelbar vor der POPKOMM das Branchenblatt
„musik woche.de“ aufschlug, der konnte sich darüber
inmitten der Entertainment-Branche ein klares Bild machen. Bei einem
Streitgespräch zwischen Gerd Gebhardt, dem Vorsitzenden der
Verbände der Deutschen Musikindustrie und „Computer-Bild“-Chefredakteur
Harald Kuppek ging es um gebrannte CDs, die man auf Schulhöfen
kaufen könne und um „Computer-Bild“, worin Redakteure
den Lesern Anleitungen zum Diebstahl von Musik via Internet geben.
Kuppek entschuldigte sich für den Betrug an den Urhebern und
Musikinvestoren erst gar nicht sondern zeigte verbal den gestreckten
Mittelfinger: „Über Moral können wir gerne diskutieren.
Dann sollten wir aber – mit Verlaub – die Kirche noch
mit dazu holen. Moral ist für mich ein sehr dehnbarer Begriff.
Was heute moralisch ist, war vor 50 Jahren undenkbar. Das sind Begriffe,
über die man schlecht diskutieren kann... Wir können uns
aber sehr wohl über die Gesetzgebung unterhalten. Über
Geschäftsethik zu diskutieren, finde ich fast lächerlich.
Welcher Kaufmann ist denn ein zutiefst moralisch handelnder Mensch?
Das ist ein Widerspruch in sich selbst. Jeder ist doch auf seinen
persönlichen Vorteil bedacht. “
Hurra, der Markt wird uns richten, aus Kapitalismus wird nun Kannibalismus,
Mensch und Musik und Kreativität kommen in virtuellen Auktionshäusern
endgültig unter den Hammer. Die Musikindustrie geht derweil
den Bach runter, weil mehr geklaut als gekauft wird, der Musikunterricht
stirbt in den Grund- und Hauptschulen aus, weil der Musikpädagoge
im Kollegium auf der Stufe des unwertigen Kretins steht und daher
kaum noch einer Musiklehrer werden will („Naturwissenschaften
pur!“ posaunt die Kultusministerkonferenz nach PISA), die
Live-Musik stirbt mit den Clubs, selbst die Love Parade verliert
eine Million Raver, weil die Kicks nicht mehr schrill genug rüberkommen,
sämtliche Musikstile von der Klassik bis zum HipHop kommen
in den Nischen-Zoo und können dort bestaunt werden, eine vitale
Musikvolkskultur definiert jeder anders, weshalb es keine mehr gibt.
Da darf hier und heute ein verdienstvoller Altrocker das letzte
Wort haben.
Udo Lindenberg, bitte übernehmen Sie: „Pop darf nur
noch von Kindern gemacht werden, anspruchsvolle Musik gibt es nicht
mehr in der Öffentlichkeit, kaum noch live und schon gar nicht
in Funk und Fernsehen. Wir haben jetzt eine Kultur der Totalverblödung.“