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nmz-archiv
nmz 2002/10 | Seite 30
51. Jahrgang | Oktober
ver.die
Fachgruppe Musik
Vom ewigen Wertewandel in der Popkultur
Von der Befreiungskultur zur Ideologie der Sieger, Teil II ·
Von Susanne Witt-Stahl [>> Teil
1]
Spätestens seit seiner ersten Buchveröffentlichung „If
the Kids Are United” gehören Martin Büssers Essays
zur Pflichtlektüre der kritischen Pop-Konsumenten. Vor allem
Musikfreunde, die unglücklich darüber sind, dass Punk
sich auf Deutsche Bank reimt, saugen seine Werke auf wie Nektar
und ordnen sie im Bücherregal ganz in der Nähe von Walter
Benjamins Kunstwerkaufsatz ein. Für die neue musikzeitung sprach
Susanne Witt-Stahl mit Martin Büsser über den Wertewandel
in der Popkultur.
nmz: Was passiert in den USA? Spätestens seit Bush
jr. sind militanter Patriotismus und Antiintellektualismus, unverklausulierter
Bellizismus und andere reaktionäre Tendenzen in der Popkultur
en vogue. Seit dem 11. September stehen die Popstars Schlange, um
als Frontunterhalter nach Pakistan reisen zu dürfen. Neil Young
kämpft Schulter an Schulter mit dem US-Präsidenten gegen
„das Böse“ („We’re goin’ after
Satan“). Pazifisten und Bürgerrechtler werden als Verräter
stigmatisiert, die wenigen kritischen Bands wie Rage Against The
Machine oder Public Enemy einer strengen Zensur unterworfen. Nun
machen die Medien sogar Country-Star Steve Earle fertig, weil er
es gewagt hat, einen Blues über den amerikanischen Taliban
John Walker Lindh zu schreiben. Pop scheint sich nicht nur meilenweit
von Woodstock entfernt, sondern sich gegen jegliche Protesthaltung
gewendet zu haben. Martin Büsser: Es gibt eine populäre Ausnahme:
George Michael, dessen Video zu „Shoot The Dog“ ein
ziemliches Aufsehen erregte. In dem Cartoon wird Tony Blair als
speichelleckendes Schoßhündchen von George W. Bush präsentiert,
der von einer sprechenden Socke (!) Anweisungen erhält,
den Irak zu bombardieren. Der Mainstream-Rock in den USA zeigt sich
tatsächlich wie umgewandelt, also patriotisch und ist damit
inzwischen eher das genaue Gegenteil von Woodstock. Dennoch: Im
Underground gibt es sehr viele kritische, reflektierte Stimmen.
Dass sie nicht so stark wahrgenommen werden wie der Hurra-Patriotismus
von Neil Young & Co. liegt natürlich auch an den Medien,
die sich dezidiert nur bejahende Stimmen herausgreifen und George
Michael als „pervers“ beschimpften (The New York
Post). Die Beastie Boys hatten etwa ein Gegenkonzert zu der „Tribute
to Heroes“-Gala veranstaltet, auf dem nur Bands auftraten,
die tatsächlich aus Downtown New York stammen (unter anderen
Yoko Ono und die Strokes). Das Konzert wurde von einem Soziologen
begleitet, der zwischen den Auftritten in einem Wortbeitrag vor
der Wirtschafts- und (kriegerischen) Außenpolitik der USA
warnte. Würde die Öffentlichkeit die kritischen Stimmen
stärker gewichten, könnte ein ganz anderes Bild von Pop
und Politik entstehen.
nmz: Eine wichtige Aussage Ihres Buches lautet, dass Pop,
nach jahrzehntelanger Protesthaltung zur „Ideologie der Sieger“
gewuchert und „in der Mitte der Gesellschaft angekommen“
ist. Kann es nicht sein, dass Pop einfach nur alt, verbraucht und
träge geworden ist? Büsser: Pop ist eine kulturelle Äußerung
wie jede andere auch, also wie auch bildende Kunst, Literatur, Film.
Als solche besitzt sie ein unglaublich breites Spektrum an Möglichkeiten
des kulturellen Ausdrucks. Begreift man Pop als Überbegriff
für jegliche Musik, die nicht dem Spektrum der akademischen
Kunstmusik beziehungsweise Neuen Musik zuzurechnen ist, dann reichen
die Äußerungen von kommerziellen Produkten wie Britney
Spears bis zu ambitionierten Bands wie Sonic Youth; sie reichen
von Macho-Rock bis zu femininem Pop. Es ist also eigentlich unmöglich,
von „dem Pop“ an sich zu sprechen und ihn einer generellen
Tendenz zu unterwerfen. Wenn ich in meinem Buch davon schreibe,
dass sich Pop vom Protest zur „Neuen Mitte“ hin orientiert
hat, bezeichnet dies eher eine allgemeine Mentalitätsverschiebung.
Der lange aufrecht erhaltene Mythos, Popkultur (und vor allem: Rockmusik)
sei per se „subversiv“ oder „rebellisch“,
hat damit endgültig ausgedient. Es ist aber immer noch möglich,
mit Hilfe einer Gitarre oder eines Samplers kritische Kultur zu
schaffen. Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele. Sie reichen
von explizit politischen Bands in Deutschland (Die Goldenen Zitronen,
Tocotronic, Britta) bis hin zu einer experimentellen, politisch
motivierten Elektronik-Szene, die sich nicht explizit durch Worte,
sondern durch eine sperrige Klangästhetik gegenkulturell äußert
(Musiker rund um das Kölner „a-Musik”-Label und
„Mille Plateaux“ in Frankfurt). Es gibt immer wieder
Bewegungen, die alte Werte gegen kulturelle Netzwerke neu entdecken
und für sich mit einem emanzipatorischen Anspruch nutzen; etwa
die seit einigen Jahren in New York aktive „Anti-Folk“-Bewegung
(wie Moldy Peaches), eine Art Neudefinition von Bob Dylan aus dem
Geist des Punk heraus, Gruppen, die ihre CDs selbst produzieren
und vertreiben.
nmz: Sie zitieren den jüdischen Literaturwissenschaftler
George Steiner, der Pop als einzig legitime Kultur nach dem Holocaust
bezeichnete. Die Hochkultur von Goethe bis Beethoven habe sich als
vereinnehmbar für die Nazis erwiesen. Sie habe gezeigt, dass
„gerade die hochkulturelle Eigenschaft der Sublimierung vorm
Inhumanen nicht schütze, sondern es geradezu förderte“,
da die „Triebunterdrückung innerhalb der abendländischen
Kultur“ das Bild vom „höheren Menschen“ und
damit auch seine Kontrastfolie, den „Untermenschen“
hervorbrachte. An anderer Stelle beziehen Sie sich auf Klaus Theweleit,
der Rock’n’Roll und Jazz als „undeutsche Sprachen“,
als Befreiungskultur und Antithese zum faschistischen Herrenmenschentum
interpretierte.
Nun war Nazi-Deutschland zu keinem Zeitpunkt eine popfreie Zone.
In den Ufa-Filmen waren keine Militärmärsche zu hören,
sondern flotte Schlager. Kann man Pop vor diesem Hintergrund ernsthaft
aus dem Kreis der „Tatverdächtigen“ ausschließen? Büsser: Um an dieser Stelle überhaupt eine Trennung
vornehmen zu können, muss Pop doch noch einmal als Begriff
definiert werden. Betrachtet man Pop lediglich als Synonym für
„populäre Kultur“, dann waren die Nationalsozialisten
sicher Meister in der Produktion popkultureller Propaganda –
was ihnen ja auch schon Walter Benjamin attestiert hatte. Mit dem
Aufkommen der „Pop Art“ in den Sechzigern und mit Bands,
die sich subversiver Strategien bedienten oder sich als Rebellen
stilisierten, bekam der Begriff allerdings eine Bedeutung, die weit
über ein bloßes „populär“ hinaus ging.
Vor diesem Background muss auch die Hoffnung gesehen werden, die
einige Intellektuelle in Pop setzten: Pop stand für eine neue
Kultur, assoziiert mit anderen kulturellen Praktiken von Opposition
(Happening, Agit-Prop), also für eine Art neues Lustprinzip.
Heute jedoch müssen die Hoffnungen von damals relativiert werden.
Es wurde natürlich übersehen, dass Pop selbst dort noch,
wo er rebellisch auftritt, nicht nur ein enormes Geschäft darstellt,
sondern dass er vor allem keineswegs die bestehende Gesellschaftsordnung
tiefergehend in Frage stellt. „Satisfaction“ und Rausch
einzufordern, verträgt sich durchaus mit unserer Gesellschaft.
Bis hin zum Techno wird im Grunde nur ein hedonistisches Bedürfnis
befriedigt, dass das System nicht destabilisiert, sondern im Gegenteil
dazu dient, Kräfte aufzubauen, wieder „fit“ zu
werden für den Arbeitsalltag. Das widerspricht jedoch nicht
meiner Antwort auf die zuvor gestellte Frage nach innovativen, gegenkulturellen
Pop-Phänomenen. Die gibt es zwar, aber die funktionieren nicht
ausschließlich hedonistisch, sondern bewusstseinsbildend.
Insofern hat auch die Popkultur längst Bands hervorgebracht,
die im Grunde fast dem Bereich der „E-Musik” zugerechnet
werden müssen. Elektronische Musiker wie Ekkehard Ehlers, Mouse
On Mars oder Jim O’Rourke haben mit Steve Reich oder Terry
Riley mehr Gemeinsamkeiten als mit den Lautsprecherwagen der „Love
Parade“.
nmz: Haben Protest-Sänger wie Joan Baez, militante
Agit-Prop-Combos wie Conflict ausgedient? Büsser: Vom Aspekt des Agit-Prop her spricht allerdings
nichts dagegen, wenn Künstler sich entscheiden, als Plattform
für politische Aussagen populäre Musik zu wählen.
Doch die populären Agit-Bands, die heute noch einen aufklärerischen,
emanzipatorischen Ansatz vertreten, lassen sich an zwei Händen
abzählen. Sie stehen vor dem Problem, dass populäre Musik
immer stärker zur Plattform für reaktionäre Agitation
geworden ist. Sei es, dass die Werte Familie, Beruf und Heimat gefestigt
werden (integrative Musik, wie man sie von Pur her kennt), sei es,
dass Homosexuelle und Frauen diffamiert werden oder kernige Männerbilder
etabliert werden. Vor diesem Hintergrund wäre es vermessen,
einer Band wie Consolidated das Recht abzusprechen, massentauglich
zu agitieren. Notwendigkeit besteht allemal.