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nmz-archiv
nmz 2002/11 | Seite 4
51. Jahrgang | November
Cluster
Unverträglich
Das Koalitionspapier der neu gewählten Regierung aus SPD
und Bündnis90/DIE GRÜNEN ist ein Wunderwerk politischer
Lyrik, gerade in dem knappen Bereich, der von Kultur und Bildung
handelt. Schon der Satz „Der freie Zugang zum Internet muss
weitestgehend erhalten bleiben” überzeugt durch Heideggersche
Präzision und knüpft an das Wirtschaftwundermotto: „Freie
Fahrt für freie Bürger” an. Dieses labile Verständnis
von moderner Massenkommunikation kann man jedoch weitestgehend nicht
in Ordnung finden, Herr Innenminister Schily. Weitestgehend daneben
ist jedoch auch die Formulierung, dass es einer stärkeren „Berücksichtigung
der kulturellen Dimension der Gesetzgebung des Bundes und gegebenenfalls
von großen Planungsvorhaben (Kulturverträglichkeitsprüfung)”
bedürfe. Holla! Was soll das denn bitteschön sein: Kulturverträglichkeitsprüfung?
Kulturelle Dimension der Gesetzgebung?, wenn dies nicht einmal von
den Mitgliedern des neuen Regierungskabinetts verstanden wird. Die
Koalitionssitzung, der wir diese Formulierung zu verdanken haben,
muss Herr Bundesfinanzminister Eichel offenbar weitestgehend verpennt
haben. Sonst hätte er nicht – mir nichts, dir nichts
– den Vorschlag unterbreitet, den Spendenabzug für alle
mildtätigen, kirchlichen, religiösen, wissenschaftlichen
und als besonders förderungswürdig anerkannten gemeinnützigen
Zwecken, also allen gemeinnützigen Kulturförderzwecken,
zu streichen (siehe dazu auch Olaf
Zimmermanns Kommentar auf Seite 1).
Die neue Regierung hat in Wirklichkeit mit Kultur so viel am Hut
wie ein Metzger mit vegetarischer Nahrung. Aus Gründen der
Kulturverträglichkeit müsste konsequenterweise die Regierung
augenblicklich weitestgehend zurücktreten, so steht es jedenfalls
im Koalitionspapier, wenn es mehr wert sein sollte, als das Papier,
auf dem es gedruckt ist. Noch hat man jedenfalls den freien Zugang
zu diesem Beleg der kulturellen Dimension der neuen Regierung im
Internet (http://www.spd.de/servlet/PB/show/1023294/Koalitionsvertrag.pdf)
– doch wer weiß, wie lange noch, denn eigentlich ist
dieses Papier auch nicht gerade kulturverträglich.