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nmz-archiv
nmz 2002/11 | Seite 14
51. Jahrgang | November
Deutscher Kulturrat
PISA-E: Folgen für die kulturelle Bildung?
Vier bildungspolitische Forderungen von Max Fuchs, Vorsitzender
des Deutschen Kulturrates
Das eigentlich Überraschende an PISA-E ist die Tatsache,
wie viele Fachleute und Politiker/-innen sich überrascht von
den Ergebnissen zeigen. Denn wenn Deutschland – so wie inzwischen
hinreichend bekannt – bei der internationalen Studie vom Dezember
2001 insgesamt schlecht abschneidet, dann wird die nationale Ergänzungsstudie
kaum bessere Ergebnisse aufweisen können. Ja, mehr noch: Jedes
Bundesland, das den Sprung über den 500 Punkte-OECD-Durchschnitt
geschafft hat, muss notwendigerweise durch ein noch schlechteres
Ergebnis eines anderen Bundeslandes kompensiert werden. Adorno hat
wohl auch hier Recht: Im Schlechten kann es kein Gutes geben. Doch,
sagen jetzt viele. Bayern und Baden-Württemberg haben es geschafft.
Tatsache ist, dass Baden-Württemberg gerade mal den 500-Punkte-Durchschnitt
erreicht hat und Bayern mit 510 Punkten (bei der Leseleistung) auf
Platz 10, also im oberen Mittelfeld liegt. Doch um welchen Preis
ist das in Bayern gelungen? Inzwischen war es vielfach nachzulesen
und zu hören: In keinem anderen Bundesland ist es für
Kinder unterer sozialer Schichten so schwer, zum Abitur zu kommen.
Kein anderes Bundesland betreibt eine so straffe Selektion mit dem
Ergebnis, dass die eigenen Bildungseinrichtungen noch nicht einmal
den eigenen Bedarf an Hochschulabsolventen decken können.
Der PISA-Bericht spricht in diesem Zusammenhang von „struktureller
Demütigung“, also von systembedingter Ausgrenzung, sogar
von Ausschluss von Zukunftschancen. „Zukunftsdiebstahl“
nennt daher das Bundesjugendkuratorium, immerhin das oberste jugendpolitische
Beratungsgremium der Bundesregierung, das, was das deutsche Bildungswesen
an den Schüler/- innen betreibt. Damit wird etwa erfasst, dass
Deutschland Weltmeister in der Auslese ist, dass ein hoher Prozentsatz
der Schüler/-innen die Schule ohne Abschluss verlässt,
dass nahezu unglaubliche Verzögerungen in der Schullaufbahn
durch Rückstellung, Sitzenbleiben oder verschobene Einschulung
geschehen und – wie in keinem anderen Land – die soziale
Herkunft den Schulerfolg so bestimmt, wie dies in Deutschland geschieht.
PISA-E unterlegt nachhaltig mit Zahlen, wie sehr unser Bildungswesen
bestimmte Schülergruppen diskriminiert. Von Chancengleichheit,
immerhin oberstes bildungspolitisches Ziel der OECD, die diese Studien
verantwortet, kann insgesamt keine Rede sein. In dieser Bewertung
sind sich die meisten einig.
Hier hört jedoch die Einigkeit oft schon auf. Es ist ausgesprochen
bedauerlich, dass die PISA-Diskussion in den Wahlkampf fiel.
Das hatte zur Folge, dass selbst ruhige und sachverständige
Politiker/-innen der Verführung nicht widerstehen konnten,
einzelne, aus dem komplizierten Zusammenhang gerissene PISA-Aussagen
als Wahlkampfmunition zu nutzen. Dabei sind beide Studien –
PISA und PISA-E – alles andere als tauglich für Hauruck-Argumentationen.
Es sind vielmehr die besten Flächenuntersuchungen, die bislang
im Bildungswesen durchgeführt wurden, so dass es sich lohnt,
sich mit ihren Anlagen gründlich auseinanderzusetzen. Diese
sind jedoch so komplex, dass einfache Kausalzusammenhänge nicht
zu finden sind. Zumal, so werden die Autoren der Studie nie müde
hervorzuheben, es eine Bestandsaufnahme und keine Ursachenanalyse
ist. Die einfache Argumentation verbietet sich jedoch auch bei vielen,
die glauben, kleinere Klassen und bessere Besoldung alleine wären
der Schlüssel zum Besseren: Die Länder mit den schlechtesten
Ergebnissen sind zugleich diejenigen mit den günstigsten Lehrer-Schüler-Relationen.
Das Schlusslicht Bremen hat zudem die beste Lehrerbesoldung. Genaueres
Hinsehen ist also gefragt.
Basiskonzept von PISA ist ein funktionales Verständnis von
Bildung: „Bildung“ im Sinne von PISA ist alltagstaugliches
Wissen, ist ein Wissen, das sich bei alltäglichen Problemlösungen
bewähren soll. „Skills for Life“ heißt daher
folgerichtig und programmatisch die internationale Studie.
Bezogen auf Mathematik klingt das so: „Mathematische Grundbildung
wird als die Fähigkeit einer Person definiert, die Rolle zu
erkennen und zu verstehen, die die Mathematik in der Welt spielt,
fundierte mathematische Urteile abzugeben und sich auf eine Weise
mit der Mathematik zu befassen, die den Anforderungen des gegenwärtigen
und künftigen Lebens dieser Person als konstruktivem, engagiertem
und reflektierendem Bürger entspricht.“ (PISA 2000, Zusammenfassung,
S. 25).
„Der konstruktive, engagierte und reflektierende Bürger“
– den muss jeder wollen. An dieser Stelle kann man aber auch
einhaken: Welche Kompetenzen braucht ein solcher Mensch? Unbestritten
ist die Notwendigkeit von Lesekompetenz, da diese die zentrale Schlüsselkompetenz
für alle anderen Kompetenzfelder ist. Doch jedes andere Wissensgebiet,
auch Mathematik und Naturwissenschaften, muss sich der Konkurrenz
stellen mit Kompetenzanforderungen in sozialen und politischen Feldern,
mit der Notwendigkeit einer praktischen, ästhetischen oder
moralischen Aneignung von Welt.
Wo bleibt etwa die Medienkompetenz in unserer von Medien bestimmten
Welt? Die derzeitige Bildungspolitik tut oft so, als ob PISA nicht
nur ein exzellentes Messprogramm im Hinblick auf bestimmte Wissensformen
wäre, sondern gleichzeitig das jahrhundertealte Kanonproblem
gelöst hätte, die Frage also, was der Mensch insgesamt
an Wissen und Kompetenzen braucht. Dabei haben nicht etwa philosophische
oder pädagogische Grundüberlegungen, sondern vielmehr
nachvollziehbare pragmatische Erwägungen auf OECD-Ebene zu
der dann ausgewählten Fächerkombination geführt:
Parallele Studien, etwa zur politischen Bildung, die man nicht durch
PISA verdoppeln wollte („civic education“), haben zum
Ausschluss politischer Bildung aus dem Prüfbereich geführt.
Vor allem aber waren es die Vorerfahrungen in der Messmethodologie
in den internationalen TIMSS-Studien (bei denen es auch um Mathematik
und Naturwissenschaften ging). Spätestens Erfurt zeigt jedoch,
dass Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften nicht genügen
(was die PISA-Autoren selbst auch nicht behaupten).
So hätten die Piloten vom 11. September in New York den PISA-Test
gut bestanden, denn ohne Mathematik, Naturwissenschaften und Lesekompetenz
kann man kein Flugzeug fliegen.
Es muss also etwas Entscheidendes dazukommen, soll der „konstruktive,
engagierte und reflektierende Bürger“ entstehen. Wieso
fällt dann der Schulpolitik die Einsicht so schwer, dass Bildung
mehr ist als Schule, dass Bildung mehr ist als Wissen, dass Bildung
überall stattfindet: in der Familie, im Jugendclub, in den
Medien, in den Jugend- und Kultureinrichtungen, dass Bildung daher
eine Vielzahl an Bildungsorten, Anlässen und Methoden braucht?
Wieso fällt die Einsicht so schwer, dass „Bildung“
mehr ist als messbares Wissen, auch wenn die Messmethode und das
Wissenskonzept noch so ausgeklügelt sind? Der Mensch muss wissen,
zweifellos. Und sicherlich ist man bei der Vermittlung von Wissen
im Kernbereich der Aufgaben von Schule.