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nmz-archiv
nmz 2002/12 | Seite 12
51. Jahrgang | Dez./Jan.
Deutscher Kulturrat
PISA-E
Vier bildungspolitische Forderungen von Max Fuchs, Teil 2 (<<<
Teil 1)
Jede noch so wissens- und leistungsorientierte Schule vermittelt
in ihrem offiziellen und in ihrem heimlichen Lehrplan doch heute
schon mehr: Formen der sozialen Zusammenarbeit, Wertvorstellungen,
Menschen- und Gesellschaftsbilder. Also müssen diese reflektiert
werden, müssen auch in der Bildungspolitik eine Rolle spielen.
Zu enger Leistungsbegriff
Leistung ist etwa gefordert. Ich fürchte, man denkt hierbei
bloß an mess- und testbare Leistungen, so wie sie Mathematik
und Naturwissenschaft ermöglicht. Es ist dies ein enger Leistungsbegriff,
der leicht zum Fetisch wird. Andere Leistungs-Begriffe sind denkbar
– und letztlich auch humaner: die Leistung etwa einer Theatergruppe,
ein Stück auf die Bühne zu bringen. Die Leistung, sich
zum ersten mal mit Tanz oder Musik in die Öffentlichkeit zu
wagen; Die Leistung, trotz Rechtschreibeschwäche Gedichte anzufertigen.
Leistungen, wie sie alltäglich in der kulturellen Bildungsarbeit
erbracht werden. Hier geht es um Wissen, sogar um prüfbares
Wissen. Aber es geht auch um Fantasie, Eigenaktivität, Selbstwirksamkeit,
es geht um soziale Prozesse, um Empathie und Toleranz, um gegenseitige
Unterstützung.
Interessant ist ein Denkspiel: Angenommen, wir haben Erfolg damit,
kulturelle Bildung im OECD-Kontext und in der „harten“
Bildungsforschung einzubringen, wie könnte dann ein „Kultur-PISA“
aussehen? Was wären Indikatoren, wie könnte man unsere
hochabstrakten Lehr- und Lernziele operationalisieren, was wären
geeignete Mess-Methoden? Mögliche Antworten könnten durchaus
zur Professionalisierung der pädagogischen Arbeit beitragen
(siehe die Überlegungen zur Evaluation im Rahmen des BKJ-Projektes
„Schlüsselkompetenzen durch kulturelle Bildung“,
http://www.schluessel-kompetenzen.bkj.de).
Lernen soll wieder stattfinden, so heißt es. Natürlich
ist das richtig. Im Spiegel-Artikel (Nr. 27, 1. Juli 2002, S. 68
ff.) kann man viele aktuelle Ergebnisse der Lernforschung nachlesen:
Erfolgreiches Lernen hat mit Emotionen, mit Spaß und Freude
zu tun. Erfolgreiches Lernen geschieht – auch bei Wissenserwerb
– mit allen Sinnen: mit Singen, Turnen, Reimen. Lernen ist
Eroberung von Welt. Und: All dies findet in der Jugend- und Kulturarbeit
statt. Gerade die außerschulische Jugendarbeit hat pädagogische
Konzepte entwickelt, in denen repressionsfrei Fehler gemacht werden
dürfen, in der eine weit gehende Selbststeuerung stattfindet.
Diese Jugendpädagogik ist auch vor dem Hintergrund der Neurowissenschaften
auf der Höhe der Zeit. Sie ist es insbesondere im Hinblick
auf die in der PISA-Studie beschriebenen Prozesse „struktureller
Demütigung“. Denn ihr Grundprinzip ist Anerkennung, ist
das Anknüpfen an Stärken von Kindern und Jugendlichen,
ist Förderung – und nicht Selektion. Instruktiv ist der
Vergleich zwischen Bayern und Schweden (Spiegel Nr. 27, S. 78ff.).
Ähnliche Ergebnisse in beiden Staaten, aber wie unterschiedlich
sind die Wege! Hier frühe Auslese, scharfe Selektion und 20
Prozent Abiturienten, dort Gesamtschule, Integration und 70 Prozent
Abiturienten. Schulqualität hat offenbar zu tun mit dem sozialen
Klima, mit Arbeitslosigkeit und ökonomischer Situation. Das
heißt, dass Bildungspolitik eng verwoben ist mit Arbeitsmarkt-,
Wirtschafts- und Sozialpolitik (S. 78ff. der „Zusammenfassung“).
Der Wert von Schulabschlüssen erweist sich in der erfolgreichen
Lebensgestaltung. Und hierfür muss die Gesellschaft Chancen
bieten. Das wiederum können Jugend-, Bildungs- und Kulturpolitik
nur zu einem geringen Teil alleine.
Was ist also zu tun?
1. Bildungspolitik muss davon ausgehen, was Kinder und Jugendliche
wirklich wissen und können sollen. Daraus ergibt sich schnell
ein Bildungsbegriff, der die PISA-Fächer durchaus enthält,
der aber weit darüber hinausgeht. Alle sollten dafür sorgen,
dass dieser weite Bildungsbegriff zur Grundlage der Bildungspolitik
wird.
2. Diese weite Bildung kann nicht nur von einer einzigen Bildungsinstitution
vermittelt werden. Familie, Jugendhilfe, Medien sind gleichermaßen
in die Bildungspolitik einzubeziehen.
3. Das heißt aber auch, dass sich andere Politikfelder vernehmlich
einmischen müssen. In der Jugendpolitik geschieht dies inzwischen.
Die Kulturpolitik, die aus vielerlei Gründen Interesse an der
kulturellen Bildung haben muss, ist eigenartig still.
4. Wenn Bildung so wichtig ist, wie zur Zeit überall gesagt
wird, dann hat das sofort Folgen: Dann ist es widersinnig, dass
– gerade bei der schlechten Lesekompetenz – Schul- und
Stadtbüchereien geschlossen werden. Dann dürfen Einrichtungen
der Jugendhilfe und speziell der Jugendarbeit, in denen teilweise
eine Menge an Kompensation von Schuldefiziten erfolgt und wo insbesondere
Möglichkeiten von individueller Anerkennung bestehen, nicht
auf Grund von Haushaltsengpässen geschlossen werden. Dann müssen
aber auch Kultureinrichtungen und Medienbetriebe an ihren Bildungsauftrag
erinnert werden.
Bildungsausgaben sind keine Subventionen, sondern Investitionen!
Eine These, die auch und gerade die OECD vertritt.
Max Fuchs, Vorsitzender des Deutschen Kulturrates
*Dieser Text schließt an meine Analyse „Kulturelle
Bildung, PISA und Co.“ an (erschienen in „politik und
kultur“ 2/2002)
Lesehinweise Deutsches
PISA-Konsortium (Hg.): PISA 2000, Opladen 2001. Deutsches
PISA-Konsortium (Hg.): PISA 2000 – Die Länder der Bundesrepublik
Deutsch-land im Vergleich, Opladen 2002. OECD:
Knowledge and Skills for Life. First Result from PISA 2000. Paris
2001.
Münchmeier, R. unter anderem (Herausgeber im Auftrag des
Bundesjugendkuratoriums): Bildung und Lebenskompetenz. Kinder-
und Jugend-hilfe vor neuen Aufgaben, Opladen 2002. Baumert
u.a.: PISA 2000 – Die Länder der Bundesrepublik Deutschland
im Vergleich. Zusammenfassung zentraler Befunde, Berlin 2002.