[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2002/11 | Seite 24
51. Jahrgang | November
Pädagogik
„Response“ – Komponisten im Musikunterricht
Komponieren mit Kindern einer 7. Klasse – eine Projektbeschreibung
· Von Burkhard Friedrich · Teil II
Ausübende Künstler und Komponisten besuchen die allgemeinbildenden
Schulen und präsentieren im jeweiligen Fachunterricht sich
selbst und ihre künstlerische Arbeit. Die nmz setzt den Artikel
von Burkhard Friedrich über das Komponieren mit Kindern (nmz
10/02, Seite24) in dieser Ausgabe fort:
Der nächste Schritt lag darin, die verschiedenen Klänge
der Aufnahmen auf den jeweiligen Instrumenten zu imitieren. Die
drei Aufnahmegruppen verteilten sich auf unterschiedliche Räume,
in denen sie die Klänge des „Spaziergangs“ instrumental
umzusetzen übten. Der Verlauf der Imitation war so strukturiert,
dass erst zwei Minuten nur gehört wurde, dann sollte zwei Minuten
das Band imitiert werden und schließlich nach Ausblendung
des Bandes noch zwei bis drei Minuten ohne Zuspielband die Imitation
fortgesetzt werden. Das Hören stand also im Zentrum der Übung.
Jede Gruppe hatte nun die Aufgabe, ihr Ergebnis dem Rest des Kurses
vorzuspielen. Es ist nachvollziehbar, dass die Reaktionen der Schüler
äußerst turbulent und gegensätzlich waren, woran
man ablesen konnte, dass die musikalische Vorbildung keineswegs
eine offene und neugierige Haltung gegenüber ungewohnten Klängen
garantiert. Das bedeutet, dass das didaktische Arbeiten mit dieser
Art Klängen nur effektiv und zielgruppengerecht ist, wenn ihm
ein klarer, formaler Rahmen zugrunde liegt, in dem sich die Kinder
wiederfinden und bewegen können. Mein Konzept der Imitation
bot mir hier eine solche verbindliche Form, die quasi als Orientierung
diente und auf die immer wieder zurückgegriffen werden konnte,
da sich die Klasse mit den Aufnahmen aufgrund der Selbsterfahrung
identifizierte.
Der Kompositionsprozess begann mit dem Ausblenden des Zuspielbandes,
so dass die jungen Interpreten alleine klarkommen und die Imitation,
die sich nun in eine Komposition verwandelte, alleine fortsetzen
mussten. In diesem Augenblick sollten musikalische Parameter im
Vordergrund stehen, die die konkreten Klänge ablösten.
Ziemlich schnell stellte sich heraus, dass mein Ziel, den Kindern
auf diese Weise das Komponieren mit rein musikalischen Strukturen
zu vermitteln, überhaupt nicht erreicht werden konnte. Während
die Kinder mittels der Zuspielbänder noch assoziativ und von
ihrer Phantasie geleitet arbeiten und lernen konnten, fiel diese
kindgerechte Möglichkeit im Augenblick des Abstrahierens weg;
die Schüler waren schlichtweg überfordert: Das transparente
Hören und Reagieren während des eigenen Spielens ohne
die Stütze der Zuspielklänge stellte die jungen Instrumentalisten
vor unüberwindbare Probleme.
Erlebnisbereiche
Da mir von den Schülern immer wieder vermittelt wurde, dass
sie ihre eigene Erlebniswelt in die Komposition integrieren wollten,
wählte ich die Form der Texturen verschiedener Erlebnisbereiche
als Grundlage für den weiteren Kompositionsverlauf, um vom
Imitationslernen zum produktiv/kreativen Lernen zu gelangen. Es
wurden Begriffe und Umweltsituationen gesammelt, die natürlich
auch auf ihre Umsetzungstauglichkeit hin geprüft werden mussten.
Schließlich einigten wir uns auf vier Texturen: 1. „Regen/Wasser/Blätterrascheln“,
2. „Sonnenstrahlen/Sonnenuntergang/Sturm“, 3. „Schritte
im Gras und überall“, 4. „Verschiedene Tiere des
Waldes“ als Materialpool. Da die Klasse aus fünf verschiedenen
Bläsergattungen zusammengesetzt war, musste entschieden werden,
ob diese Kompositionsabschnitte von gleichen oder gemischten Instrumentalensembles
gespielt werden. Die Kinder entschieden sich für „gemischt“,
vier Kinder wurden ausgesucht, die jeweils „ihr“ Ensemble
zusammenstellen durften. Mit Hilfe des Musiklehrers und der beiden
Musiker des „Ensembles Resonanz“ wurde geübt, die
ausgewählten Naturbilder auf der Basis des Improvisierens musikalisch
umzusetzen und jeweils graphische Partituren anzufertigen, aus denen
auch ein Zeitrahmen hervorging. Es entstanden etwa zwei- bis dreiminütige,
aufgrund der Partituren recht verbindliche musikalische Verläufe,
die einander vorgestellt wurden. Es kristallisierte sich der Wunsch
heraus, dass in der Endfassung des gesamten Stückes auch jede
Instrumentengattung eine Gelegenheit bekommen sollte, sich vorzustellen.
Ich betrachtete dieses Anliegen als Möglichkeit, doch noch
rein musikalische, also nicht assoziative Kompositionsabschnitte
zu integrieren und schlug vor, dass sich jede Instrumentengruppe
Klänge aussuchen sollte, mit denen sie die Besonderheiten ihres
Instrumentes repräsentiert. Im Hintergrund sollte ein leiser
Klangteppich als eine Art Begleitung dienen; wie bei der Big Band
das Solo vor dem Tutti-Hintergrund, nur hier mit anderen Klängen.
Die Flöten wählten beispielsweise „Triller in hohen
Lagen“ vor dem Klanghintergrund „Tiefe Cluster aus Liegeklängen“,
die Trompeten „fanfarenartige Signale“ vor einem Teppich
aus „Mundstück-Vibrato“, die Posaunen wählten
„Glissandi“ mit „Punktklängen in kleinen
Intervallen“ als Begleitung und so weiter. Auch diese Ensemblestücke
mussten intensiv geprobt und verabredet werden.
Aus Zeitgründen übernahm ich in Eigenregie die Notation
des endgültigen Verlaufs der Komposition, das heißt das
Zusammensetzen der einzelnen Abschnitte zu einer für alle nachvollziehbaren
und überschaubaren Form mit dem Titel „AtemKlänge“
und fertigte eine grafische Partitur unter Berücksichtigung
der grafischen Ideen der Schüler an. Das Besondere der Komposition
lag darin, dass nunmehr alle 28 Instrumentalisten beteiligt waren
und man von der Form eines Concerto grosso sprechen kann, in der
sich „Ripieno“- und „Tutti“-Abschnitte regelmäßig
abwechseln. Es schloss sich eine Probe- und Übephase mit dem
Ziel an, das Stück ohne Dirigenten uraufzuführen, um den
Kindern einen Lernprozess des Aufeinanderhörens und -reagierens
zu ermöglichen. „AtemKlänge“ wurde im September
im Rahmen des „musikfest hamburg“ uraufgeführt.
Der Landesmusikrat Hamburg hat unter dem Titel „Eine Reise
in die Musik des 21. Jahrhunderts“ ein ähnliches Projekt
ins Leben gerufen, im Rahmen dessen mir ein LK Musik angeboten wurde.
Es liegt auf der Hand, dass sich die kompositorische Arbeit mit
den Abiturienten des LK Musik bei weitem als komplexer und intellektueller
herausstellte. Ich habe denselben Einstieg wie bei der 7. Klasse
gewählt, die jeweiligen Dauern verlängert (also drei Minuten
Zuspielband solo, drei Minuten Zuspielband mit „Ensemble“,
drei Minuten Ausblendung und vier Minuten fortsetzende Imitation)
und die Schüler gebeten, untereinander die Instrumente auf
die Klangereignisse zu verteilen, was bei der Anzahl von den zehn
Schüler/-innen des Kurses nicht schwer fiel. Die Schüler
wählten folgende Aufnahmen: 1. „Startende Flugzeuge“,
2. „Fressendes Meerschwein“ (äußerst verstärkt)
und 3. „Autofahrt; innen aufgenommen“.
Improvisationsphasen
Ziel war es, die drei Aufnahmen mit den Live-Imitationen unter
Zuhilfenahme von Stoppuhren simultan im Konzertsaal aufzuführen.
Auch hier stand der Kurs den ungewohnten Klängen und Spielweisen
anfangs sehr reserviert gegenüber, spielte zwar jede(r) ein
Instrument, doch war der jeweilige Erfahrungshorizont eindeutig
von der klassischen Musik und dem Musical geprägt. Um den Schülern
das Prinzip des Komponieren nahe zu bringen, führte ich einige
Improvisationsphasen durch, bei denen vorher musikalische Parameter
festgelegt wurden. Die Improvisationen wurden aufgenommen und anschließend
analysiert, was den Ehrgeiz der Schüler, es „richtig“
zu machen, verstärkt anheizte. Nach mehrwöchigem Improvisieren
kehrte ich zu den Aufnahmen zurück und erläuterte ihnen
meine Konzeption des simultanen Abspielens und Imitierens aller
drei Gruppen im selben Raum. Entgegengesetzt zum Improvisieren stand
hier für jede Gruppe im Vordergrund, sich hundertprozentig
von den anderen Gruppen abzugrenzen und seine eigene Imitation zu
spielen.
In den Improvisationsphasen haben die Schüler gelernt, über
Klangtexturen und Parameter miteinander zu kommunizieren und ad
hoc zu komponieren und in den Imitationsphasen wurde ihnen vermittelt,
mit aller Phantasie und Kreativität konkrete Klänge zu
imitieren beziehungsweise auf ihrem jeweiligen Instrument zu variieren
und sich – fast schon autistisch – nur auf ihre CD zu
beziehen. Die Komposition „sound copies“ wurde im Juni
2002 in der „Kleinen Musikhalle“ Hamburg uraufgeführt.
Der geschilderte Arbeitsprozess unterscheidet sich insofern von
dem mit der 7. Klasse, als dass hier die rein musikalische Arbeit
auf einer abstrakten Ebene im Vordergrund stand. Damit wird der
zweite Schritt des Kompositionsprozesses repräsentiert: die
Transformation und Abstraktion des Ausgangsmaterials, was in der
Form bei „AtemKlänge“ in dem verfügbaren Zeitraum
nicht realisiert werden konnte. Dort wäre eben der nächste
Schritt gewesen, die konkret assoziative Ebene zu verlassen und
die Qualität des musikalischen Materials hinsichtlich des Komponierens
mit seinen Klängen, Motiven oder Rhythmen zu prüfen. „AtemKlänge“
stellt eine Art komponierten/improvisierten Materialpool dar, während
„sound copies“ einer Komposition mit Werkcharakter aufgrund
ihrer verbindlich festgelegten Binnenstruktur schon sehr nahe kommt.
Sowohl in der 7. Klasse, als auch im LK Musik haben sich im Laufe
des Arbeitsprozesses das Verhältnis und die Haltung gegenüber
Komponisten der heutigen Zeit und deren Musik grundlegend verändert.
Nicht nur der unmittelbare Kontakt, sondern auch die Selbstverständlichkeit
und Nachvollziehbarkeit des kompositorischen Schaffens haben den
Schülern einen Horizont eröffnet, der dem Musikunterricht,
zumindest für den Zeitraum von diesen vier Monaten, eine neue
Dimension gegeben hat. Es wurden neue Blickwinkel geschaffen, Strukturen
und Wissen in Frage gestellt, es haben sich Fragen ergeben, die
teilweise beantwortet werden konnten, teilweise jedoch noch länger
im Raum stehen werden und es hat sich, was absolut im Vordergrund
steht, ein Diskurs über Perspektiven einer Neugestaltung des
Musikunterrichts ergeben, der Kreise ziehen wird. Nur so kann dem
Bildungsauftrag der allgemein bildenden Schulen in einer modernen
Informationsgesellschaft, in der es um die Vielfalt und Komplexität
der Zusammenhänge zwischen Kultur und Gesellschaft gehen soll,
Rechnung getragen werden.