Die Zeiten, in denen nach Gutsherrnart über einen guten oder
schlechten Jahrgang in Donaueschingen befunden wurde, sind vorbei.
Dass die Werke wie gekelterte Sorten abgeschmeckt werden und dann,
wenn bei einigen Öchsle-Grad und alkoholisches Volumen den
Vorkoster erfeuen, die Ernte als befriedigend eingestuft wurde,
das gibt es heute nicht mehr. Es geisterte dieses Mal das Wort des
Meisterwerks, das man an Deutschlands bedeutenster Stätte zeitgenössischer
musikalischer Auseinandersetzung erwarte. Man kann vermutlich lange
warten, nicht weil es keine Meisterwerke mehr gibt, sondern weil
die Kriterien ihrer Einstufung dahingeschmolzen sind. Es sind heute
in erster Linie die älteren Kritiker, die sich anschicken,
Donaueschingen den Rücken zu kehren – und mit diesen
die alten Wertekriterien. Ist das nicht im Grunde gut so? Denn sie
hinterlassen keine leeren Stühle, da junges, unvoreingenommenes
Publikum in Scharen nachdrängt.
Organisator Armin Köhler hat diese Zeichen erkannt, vielleicht
musste man ihn, auch innerhalb der entflammten Festivaldiskussion,
auch etwas dorthin drängen. Ganz sicher ist sich ja keiner.
Immer gibt es in der ästhetischen Auseinandersetzung Zeiten
der Fülle, des Erntens, denen Zeiten der Verunsicherung, des
Suchens, des Sähens folgen. Jammern über die Notwendigkeit
des Suchens nützt nichts, ist es nicht eigentlich ein aufregend
schöner Zustand? Nur muss ein Festival in solchen Perioden
alte Häute und alte Hüte ablegen, es muss sich nackt und
offen machen. Zeitgenössisches Musikfestival heißt eben
nicht, dass man pflichgetreu den Termin erfüllt, es heißt,
die gegenwärtige Lage zu analysieren und danach die Strukturen
fürs Kommende festzulegen oder auszuprobieren.
Klingender Zaubergarten:
Erwin Staches Installation für die Donaueschinger Musiktage
2002. Eckpendel, Scherengitter und Module erzeugen im dunklen
Raum faszinierende Bewegungsstrukturen, die sich mit komponierten
Klängen zu poetischen, humorvollen Bildern verdichten,
in deren scheinbare Abstraktheit man sogar richtige Geschichten
hineinfantasieren könnte, vielleicht eine aus Shakespeares
Ardennerwald oder Don Quichottes Kampf gegen die Windmühlenflügel.
Staches Raum-Klang-Installationen besitzen oft auch einen
wunderbaren theatralischen Gestus. Foto: Charlotte Oswald
Es war heuer in diesem Sinne ein Probefestival. Selten erlebte
man so deutlich eine Flut von sich widersprechenden Beurteilungen,
die beim gleichen Stück von unmöglich bis überragend
tendierten. Das kennzeichnet einen schöpferischen Zustand.
Wo es mehr Fragen als Antworten gibt, da kann man zu arbeiten anfangen.
Die Musik, die musikalische Äußerung hören nie auf,
solange der Mensch noch wahrzunehmen versteht. Man möchte mit
Mahler antworten, der gegenüber dem an der Zukunft zweifelnden
Brahms bei einem Spaziergang am Bach geantwortet haben soll: „Sehen
Sie dort – die letzte Welle!“
Öffnung tut not und hierfür gaben die Donaueschinger
Musiktage bestes Beispiel. Selten war die ästhetische Spannweite
so groß wie dieses Jahr. Das lag unter anderem auch daran,
dass die Jazz-Session (Reinhard Kager ist neuer Gestalter), die
sonst fast schon gewohnheitsmäßig einer anderen Klientel
vorbehalten blieb, sich dieses Mal experimentell ins Gesamtgeschehen
integrierte. Mochte man dem eher stillen Duo Ikue Mori und Marina
Rosenfeld, die mit Rhythmusmaschinen, Notebooks und altem Vinyl
hantierten noch eine gewisse Verhaltenheit attestieren, so war Wolfgang
Mitterers zweistündige Improvisation Radio Fractal/Beat Music
mit erlesenen Mitakteuren wie Erdem Tunakan und Patrick Pulsinger
(Electronics) oder den realakustisch sich integrierenden Max Nagl,
John Schröder, dieb13 und Herbert Reisinger ein rundum kühner
Gang durch in gleichmäßige Beat-Prozesse geschaltete
klangliche Fremdwelten: hochmusikalisch, sensibel, mit spontan um
sich greifender Power. Es sind musikalische Formen, denen sich das
klassische Donaueschinger Publikum nicht entziehen darf (sonst wird
es wirklich klassisch im Sinne von abgesegnet und ins Archiv gelegt).
Von hier aus gab es Spannweiten nach allen Seiten. Klaus Huber,
78-jährig, markierte einen Pol mit seinem Kammerkonzert für
Violoncello-Solo, Baryton-Solo, Kontratenor und 37 Instrumentalisten
„Die Seele muss vom Reittier steigen“. Gewiss, das fußte
auf alter Ästhetik der Moderne, aber die Art, wie Klaus Huber
Elemente arabischer Skalen feinhörig integrierte, wie er Bögen
schlug zwischen dem frühen (islamischen) Aufklärer Avicenna
(um das Jahr 1000!) und dem heutigen palästinensischen Dichter
Mahmoud Darwisch, dessen hier verwendetes Klagegedicht 2002 in Ramallah
entstand, das markiert eine ästhetisch stringente, innig ehrliche
Position, die mitten im Heute steht. Der Altmeister eines bis in
die Haarspitzen musikalisch verantwortlichen Tons hatte hiermit
einen markanten Pfeiler in die Donaueschinger Landschaft dieses
Jahres geschlagen.
Vielleicht war es die Tatsache, dass in vielen Werken (eine Leitlinie
des heurigen Festivals) die menschliche Stimme in extremen Formen
zum Einsatz kam, die die spagatartige Spannweite ermöglichte.
Die Stimme ist immer noch vielfältigster und wandlungsfähigster
Klangerzeuger. Sie ist A und O von Musik und schafft es immer wieder,
den Ballast von vorprägend belastender Tradition anzustreifen.
So hatte die Schwedin Karin Rehnquist in „Teile dich Nacht“
ein Chorwerk mit Solostimme (mit der formidablen Volkssängerin
Lena Willemark) vorgelegt, das schrille, vibratolose Höhen
des schwedischen Kulning-Singens mit der „Zivilisationsebene“
avantgardistischer Chortechniken auf Texte von Nelly Sachs konfrontierte.
Rehnquist hat schon mehrfach mit Willemark zusammengearbeitet. Vielleicht
mögen frühere Arbeiten dabei stichhaltiger ausgefallen
sein, als dieses Donaueschingen-Stück. Doch ihr Bemühen,
aus spontan empfundenen volksmusikalischen Singetechniken neue Kraftfelder
für moderne Ausdruckstechniken zu erobern, blieb auch hier
nachdrücklich spürbar.
All das waren Kompositionen, die gegen einen engen Regelkanon des
Avantgardedenkens verstoßen hätten. Und hierzu gehörte
gewiss auch George Lopez’ szenisches Orchesterwerk „Schatten
vergessener Ahnen“. Der in Kuba geborene Lopez gehört
sicher zu den schöpferischsten Musikern der Gegenwart. Er erfindet
Klänge von erstaunlicher körperlicher Gewalt und Suggestionskraft,
tief, rumorend, aus dem Bauch heraus und dennoch von intellektueller
Trennschärfe gezeichnet. Dumm aber war die szenische Umsetzung,
der läppische Tanz der Mädchen um den Götzen Dirigent,
der als Schamane oder Voodoo-Zauberer verkleidet war. Letztlich
wird sein (Rinder-) Schädel von Äxten in Stücke gehauen.
Knochen splittern, die einst, das Hirn bergend, das Stück zum
Gleichmarsch zwingen wollten.
Ja, Lopez, wir haben verstanden – aber muss das wirklich
so ballettunterrichthaft aussehen? Seine Musik aber wird weiter
rumoren, gereinigt von solch lapidaren bis peinlichen Zusätzen.
Es sei denn, Lopez verfällt weiterhin auf solch drittklassigen
Szenarien, die vielleicht in seinem Kopf in abgeschieden hoher Alpenluft,
wohin er sich anachoretenhaft flüchtete, herumspuken. Dann
aber war sie breitseitig voll da, die experimentelle Szene: in diesem
Jahr, wie gesagt, die menschliche Stimme, teilweise in der Konfrontation
mit Elektronik. Donaueschingen bot mit mehr als zehn Arbeiten in
dieser Richtung einen ganzen Katalog künstlerischer Möglichkeiten.
Manches warf nur Fragezeichen auf (Phillippe Broutin, Amanda Stewart,
vielleicht auch die surreal gegen jeden professionellen Strich gebürsteten
Aktionen von Jennifer Walshe), andere wiederum blieben in ihrem
Rahmen, ohne aufregend neue Akzente zu setzen. So etwa der stupende
Lautkünstler Jaap Blonk, Gerard Pape mit einer auskomponierten
Himmels- und Teufels-Vision „The Ecstasy of St. Theresia“
oder Misato Mochizuki, die in „Ecoute“ fein ausgehörte,
lichtgestütze vokale Klangaktionen entwarf. Auch Bernhard Langs
Orchesterkomposition mit Loop-Generator (hier ohne Stimmen) „Differenz/Wiederholung
7“ replizierte (auf hohem Niveau) von ihm in dieser Reihe
entwickelte Techniken ohne zwingend neue Aspekte hörbar zu
machen. Spannender wirkte hier Alan Hilarios Stück „Phonautograph“
als Vermittlung alter Klangaufzeichnungstechniken mit Reaktionen
von Stimm- und Posaunenklängen.
Der kompositorisch sehr reflektierte Julio Estrada wagte im Stück
„Hum“ magische Gesten des Flüsterns und Murmelns,
die über Live-Elektronik drastisch zu Klängen aus dem
beschworenen Jenseits umgewandelt wurden: ein ausdifferenziertes
Ritual. Und schließlich wartete Chaya Czernowin in „Maim
zarim maim gnuvin“ (fremdes Wasser, gestohlenes Wasser) mit
einer in expressiver Splitterklangtechnik (bis zum Zersplittern
der Klänge) ausgeführten tief berührenden Reaktion
auf politische Ereignisse der Gegenwart von Nahost bis zum New York
des 11. September auf. Schärfere Akzente freilich setzten Michael
Lentz und Zoro Babel im hochaggressiven, wutgestauten Stück
„arcane dal marocco“ mit kreischenden Gitarren à
la Jimi Hendrix, Josef Anton Riedl in „vollicht aust es sa,
III“, einem virtuosen Reiz-Reaktions-Szenarium von Live-Aktionen
und Video/Klang-Projektionen voller rhythmischer Finessen, Anspannung
und beklemmend radikaler Attacke und schließlich Helmut Oehring
mit dem Absurdum „Er.eine She“ (aus: 5ÜNF/Haare-Opfer).
Hinter grinsenden Masken wie beim filmklassischen Banküberfall
tauchten gesichtlose Gebärden auf, der Solocellist fungierte
als fingernagelrotgelacktes Barock-Androgyn, die Musik (von gehörlosen
Vokalisten) bewegte sich gleichsam in gedoppelter Surrealität
zwischen Klängen der verzweifelten Leere und Stillen aufatmenden
Glücks.
Die doppelte Surrealität wurde neue Wirklichkeit, packend
und stark. Donaueschingen als Spektralfeld: Hier und heuer wurden
Zeichen gesetzt, wie die Zukunft aussehen könnte. Denn eines
muss Donaueschingen bleiben: einzigartig. Wir wissen, dass in letzter
Zeit viele Festivals Neuer Musik erfolgreich heranwuchsen, die auf
Ambiente, regionale Einbindung, Information vor Ort auf hohem Niveau
bauen.
Das ist erfreulich, kann aber die Stätte des forschenden Probierens
in großer Ausstattung nicht ersetzen. Von Donaueschingen wird
auch in Zukunft zu erwarten sein, dass Komponisten, Musiker, Publikum,
Kritik immer aufs Neue ins Offene schreiten.