Es fällt auf, dass seit einigen Jahren immer mehr Festivals
mit Neuer Musik entstehen: nicht in den Ballungszentren des Musiklebens,
sondern an kleinen, oft idyllischen Orten in angenehmen Landschaften,
wo sich die Begegnungen von Künstlern und Publikum in entspannter
Atmosphäre vollziehen. Rümlingen, Ulrichsberg, Schreyahn
und das österreichische Schwaz mögen als Beispiele dienen.
Aber auch die Komponistenporträts in Weingarten entwickelten
sich immer mehr zu informativen Darstellungen unterschiedlichster
Komponierhandschriften – in diesem Jahr weilte Walter Zimmermann
dort.
Einführung in die Musik
der Zukunft: Jugendkonzert in der Forbacher Bergwerkshalle.
Foto: Charlotte Oswald
Die meisten dieser neuen Festivals bieten eine sinnvolle und auch
notwendige Ergänzung und perspektivische Erweiterung bestehender
Einrichtungen wie etwa den Musiktagen in Donaueschingen oder den
Kammermusiktagen in Witten. An den neuen Stätten der Gegenwartsmusik
trifft man auch auf eine erweiterte Neugier, beim Publikum und bei
den Künstlern selbst. Man probiert vieles aus, schlägt
Brücken zu den anderen Künsten, zu Literatur, zur Malerei,
zu Film und Video. Die kleineren Dimensionen der Veranstaltungen
erlauben eine höhere Beweglichkeit bei den Inhalten. Man denkt
sich deshalb anscheinend schneller und couragierter etwas Neues
aus, kommuniziert auch direkter und spontaner mit einem aufgeschlossenen
Zuhörerkreis, der sich aus vielen Berufszweigen zusammensetzt,
der sich jedoch in einem einig ist: in der Offenheit und Unvoreingenommenheit
dem Neuartigen gegenüber. Das kommunikative Element unter allen
Beteiligten tritt stärker hervor, wirkt produktiv in die Rezeption
des Neuen hinein. Diese Regionalisierung bringt der Neuen Musik
zusätzlichen und wichtigen Gewinn: einen neuen Besuchertypus,
der nicht wie ein professioneller Musik-Tester in Donaueschingen
die neuen „Modelle” kühl registriert und kritisch
bewertet, sondern der die Novitäten auch emotional zu erfahren
versucht. Das ist immerhin eine neue, fast unerwartete Qualität
für die Aufnahme Neuer Musik.
In solche veränderten Ambiencen muss man auch das „rendez-vous
musique nouvelle” im lothringischen Forbach einstellen, das
in diesem Jahr zum siebten Mal stattfand, allerdings eine erheblich
längere und ruhmreiche Vorgeschichte aufzuweisen vermag: Es
entstand aus dem Ende der berühmten Metzer „Rencontres
de la musique contemporain”, die nach zwei Jahrzehnten glanzvoller
Arbeit anno 1993 abrupt wegen einer lächerlichen Zuschusssumme
förmlich abgewürgt wurden – ein Akt kulturpolitischer
Barbarei in einem Land, das sich sonst gern als große Kulturnation
feiern lässt. Der Komponist Claude Lefebvre, Gründer und
Leiter des Metzer Festivals, ließ sich jedoch nicht gänzlich
entmutigen. Ermuntert von ei-nem kunstverständigen Bürgermeister
gründete er in Forbach, einem kleinen Industriestädtchen
zwischen Saarbrücken und Metz nahe der deutschen Grenze, das
„rendez-vous musique nouvelle”.
Das Städtchen ist nicht groß (27.000 Einwohner) und
nicht eben reich: Die alten Industrien, die Kohleförderung
liegen brach, mit neuen Produktionen möchte man wieder Anschluss
an die industrielle Zukunft gewinnen. Ein offensichtlich intelligentes
Stadtoberhaupt weiß, dass zu solchem Gelingen auch ein entsprechendes
Lebensumfeld für die Menschen der Region (etwa 100.000 Bewohner)
erforderlich ist. Dazu gehört auch eine entsprechende kulturelle
Struktur. Ein modernes, geradezu schickes neues „Centre d’Animation
Culturelle” mit einem großen Theater- und Konzertsaal
bietet den Bürgern eine würdige und festliche Versammlungsstätte.
Vor den Toren der Stadt, auf dem Gelände einer stillgelegten
Kohlenmine, entstand in einer Riesenhalle, der einstigen Kohlenwäscherei,
ein Kulturzentrum, das vielfältige Nutzungen gestattet. Auch
Kirchen zählen zum Raumangebot sowie ein moderner Saal im alten
Burghofareal. Damit lässt sich schon einiges anfangen.
An Programmideen fehlt es Claude Lefebvre und seiner Mitstreiterin
Inge Borg nicht, eher an, wie könnte es anders sein, finanzieller
Ausstattung. Immerhin gibt es enge Kontakte mit Saarbrücken
und dem dortigen „Netzwerk” kultureller Institute: Saarländischer
Rundfunk mit dem Sinfonieorchester, Musikhochschule, Staatstheater,
Museum. Claude Lefebvre hält an der Musikhochschule Kurse über
Elektronische Musik, die Kooperation funktioniert also und bringt
beiden Seiten Vorteile, die auch dem Forbacher Festivalprogramm
zum Vorteil gereichen.
Auch diesmal gab das Saarbrücker Rundfunk-Sinfonieorchester
unter Pierre-André Valade im Centre Culturelle ein Konzert
mit Werken von Grisey, Ravel, Kagel sowie einer Uraufführung:
der Zender-Schüler Hans Thomalla, 1975 in Bonn geboren, schrieb
zwischen 1999 und 2002 das Werk „Affirmation/Auslöschung...”.
Lebhafte Kontrastierungen zwischen einem prägnant-solistischen
Streichtrio und einem mit Klavier, Hammerklavier und E-Gitarre angereicherten
symphonischen, eher flächigen Orchesterklang verbinden sich
mit über Zuspielband hinein gesprochenen Texten von Rainald
Goetz und Helmut Lachenmann, die Untersuchungen komponierender Jugendlicher
beziehungsweise gesellschaftskritische Funktionen von Musik behandeln.
Der Titel verweist schon auf die Bewegungen, die sich in der Komposition
vollziehen: Musikalische Strukturen werden „ausgelöscht”,
auch ins „Stereotype” überführt. Das liest
sich ziemlich abstrakt, führt aber denn doch zu einer Musik
von bemerkenswerter Innenspannung und gestischer Beredtheit, plastisch
vorgetragen vom Orchester und Valade. Großartig gelangen Griseys
„Le temps et l’écume” für Schlagzeuger,
Synthesizer und Kammerorchester sowie Kagels „Broken chords”
für Orchester als französische Erstaufführung. Und
Ravels Klavierkonzert für die linke Hand (Solist: Jean-Efflam
Bavouzet) ist, so perfekt gespielt wie hier, einfach ein herrlich
modernes Stück Musik.
Für zwei Konzerte war das Frankfurter „ensemble belcanto”
von Dietburg Spohr nach Forbach eingeladen worden. Überwältigend
die Wiederbegegnung mit Karlheinz Stockhausens „Stimmung”,
im Jahre 1968 für sechs Vokalisten komponiert und seit der
Uraufführung 1969 kaum mehr im Konzertsaal erschienen. 75 Minuten
fließen die vokalen Lineaments vibratolos durch den etwas
zu halligen Kirchenraum, umhüllen gleichsam die Liebespoesien
des Komponisten, für den „wahre Liebe” nur zwischen
Mann und Frau entstehen kann, weshalb sich die sechs Gesangspartien
auch paritätisch zwischen männlichen und weiblichen Sängern
aufteilen sollen – wenn natürlich, wie hier geschehen,
einer erkrankt, dann muss man eben auch ein Übergewicht, diesmal
des weiblichen Prinzips, hinnehmen. Der Wirkung tat es keinen Abbruch.
Bewundernswert, wie die „belcanto”-Sänger die Innenspannung
der „unendlichen” Gesangslinien durchhielten, wie sie
das Non-vibrato gleichwohl mit einer äußerst sensiblen
Expressivität zu verbinden wussten, die einen das Werk bei
aller Kompliziertheit und Komplexität zugleich auch wunderbar
emotional erleben ließ. Eigentlich hatte der späte Stockhausen
mit diesem frühen Werk schon alles komponiert. Der zweite Abend
des „belcanto ensembles” brachte neben Luigi Nonos „donde
estás, hermano” und Wolfgang Rihms „Séraphin/
Stimmen” (beides ausgezeichnet interpretiert) zwei Uraufführungen:
Art-Oliver Simons (Jahrgang 1966) „zdarzenie” („Ereignis”)
für sechs Frauenstimmen und Sergej Newskis (1972 in Moskau
geboren) „generator” für vier Frauenstimmen (Klavier
ad libitum). Beide Werke entstanden für das Ensemble.
Simon verarbeitet ein kurzes Gedicht, das er auf Polnisch verfasste,
fragmentarisch in die vokale Struktur, löst die Textur schließlich
in Vokale oder Konsonanten auf, die eine eigene sprach-klangliche
Sphäre schaffen. Ein wenig getüftelt wirkt das Jonglieren
mit Bedeutungen wie Distanz, Verblendung oder Warten auf das Morgen
sowie deren Überführung in Klangsprache schon. Interessanter
und griffiger daneben das Stück von Newski: Fragen der Distanz
auch hier. Krasse Realistik, vom Foto erfasst, gewinnt im Abbild
Form. Wie übersetze ich das krasse, Form gewordene Bild in
Musik, in Stimmklang? Adäquate Ausdrucksmittel sind Stottern,
Murmeln, Verzerrung der Stimme, innerer Monolog. Emotionales tritt
hinzu: Angst, Wut, stimmliche Expression. In dieses komplexe Wechselspiel
wird auch das Publikum hineingezogen. Es wird förmlich gezwungen,
sich innerlich irgendwie zu engagieren. Ein Werk also, das auf mehreren
Ebenen agiert. Die Belcanto-Vokalistinnen sind für derart Kompliziertes
bestens trainiert.
Die Franzosen lieben geradezu die Animation. In Metz bildeten
diesbezügliche Veranstaltungen einen Schwerpunkt des Festival.
In Forbach setzt Claude Lefebvre diese Tradition fort. Der riesige
Technik-Raum der ehemaligen Kohlenwäscherei ist dafür
der rechte Ort. Eiserne Brücken und Stege überall im Raum,
dazwischen und darunter die Aktionen und das Publikum. Am Vormittag
werden hunderte Kinder in die Welt von Video und Elektronik eingeführt,
abends versammeln sich dann die Erwachsenen. Die Groupe de recherches
musicales Paris ist in ihrem Element. Musik und Video heißt
die Devise. Christian Zanési und Véronique Moysset
(Metallische Konstruktionen) und Ludger Brümmer („ronos“)
experimentieren fantasievoll mit den diversen Ausdrucksmitteln.
Dann fährt der Argentinier Daniel Feruggi (Jahrgang 1952) die
große Raum-Klang-Oper auf: fünf Schlagwerker auf den
vorderen Podesten, Elektronik, Bilder aus der Arbeitswelt des Ortes,
schließlich noch eine Harmoniemusik, die alte Bergwerkskapelle,
jetzt mit vorwiegend jungen Leuten besetzt. Der Titel der „Oper”
heißt „Lavoir à sons”, eigentlich müsste
er „Forbach” heißen. Feruggi komponierte das „Klangbad”
für die Stadt, ihre Geschichte, Gegenwart und: Zukunft. Wo
soviel Vitalität auszubrechen vermag, geht das Leben bestimmt
weiter, auch wenn der Weg noch so beschwerlich sein mag. In Forbach
ist das Festival der Neuen Musik vielleicht am engsten mit der Stadt
und ihren Bürgern verbunden. Eine gute Verbindung.