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nmz-archiv
nmz 2002/12 | Seite 5
51. Jahrgang | Dez./Jan.
Cluster
Original-Schauplatz
Es fing alles ganz harmlos an: Als der erste Musical-Boom in Deutschland
und Österreich mit „Cats“, „Starlight Express“
oder dem „Phantom der Oper“ langsam zu verebben begann,
kam ein findiger Musicalkomponist auf die Idee, doch endlich etwas
Lokalkolorit in die Szene einzubringen. Millionen von Japanern,
Amerikanern und Chinesen müssten doch abends nichts lieber
tun wollen als die bezaubernde Bilderbuch-Sissi von Österreich,
wenn sie schon in den tagsüber zu besichtigenden Schlössern
mit Abwesenheit glänzt, wenigstens auf einer Musicalbühne
zu bewundern. „Elisabeth“ war geboren. Dass die Verehrte
dabei alberne und nicht besonders eingängige Liedchen zwitschert,
dagegen sind selbst zahlende Touristen machtlos. Oh, dachte ein
findiger Bayer, der nahe der österreichischen Grenze residierte,
wir haben zwar keine Kaiserin, aber doch unseren Kini mitsamt seinen
Märchenschlössern, da müsste doch was zu machen sein.
Und schon war das erste bayerische Musical am Originalschauplatz
aus der Taufe gehoben. Die Erfolgsstory geht aber noch weiter: auf
welchen Spuren kann man in der rustikalen Bergwelt der Alpen noch
lustwandeln? Richtig – Ganghofer, der Heimatdichter, der auch
noch aus dem malerischen Bad Reichenhall stammt. „Der Mann
im Salz“ war geboren. Ach, dachten sich da die neidischen
Ansbacher Stadtväter. Was die können, das können
wir erst recht nachmachen: wir haben unseren Kaspar Hauser schließlich
zwölf Jahre im benachbarten Nürnberg in einem Verließ
versteckt gehalten, da lässt sich doch was draus machen! Ein
Kaspar-Hauser-Festival samt Musical war geboren. Da spielte es auch
keine Rolle, dass das Findelkind kaum sprechen konnte, singen geht
immer.
Es eröffnen sich noch tausend andere wundersame Events für
die Touristikbranche in Deutschland, der Fantasie sind keine Grenzen
gesetzt. Wie wär’s mit einem Stoiber-Musical in Wolfratshausen,
einem Schröder-Musiktheater in Mossenberg an der Lippe (ist
irgendwo in Westfalen, ist aber egal), einem Bochumer Grönemeyer-Musical?
Das nagelneue Pop’n’Rock-Museum in Gronau sollte man
2003 natürlich mit einem Udo-Lindenberg-Stück eröffnen,
der könnte sogar selber singen. Das Original am Originalschauplatz
sozusagen, besser geht’s nicht, oder?