Hans Zender über neue Strukturen zwischen Komponist, Interpret
und Wissenschaftler
Der Hessische Kulturpreis 2002 ging am 3. November 2002 sozusagen
gleich dreimal an die Musik. Ausgezeichnet wurden die Bratscherin
Tabea Zimmermann, der in Wiesbaden geborene Komponist Hans Zender
und das Internationale Musikinstitut Darmstadt. Die nmz druckt die
Dankesrede Hans Zenders in Auszügen ab.
Der Dirigent – einsam:
Hans Zender bei einer Probe. Foto: Charlotte Oswald
Die hessische Landesregierung hat eine Interpretin, einen Komponisten
und den Vertreter einer avancierten musikalischen Schulungsstätte
ausgewählt. Damit sind die drei Eckpunkte artikuliert, welche
den geistigen Raum bestimmen, in dem sich die Kunst der Musik im
Sinne der europäischen Geistesgeschichte der vergangenen 1.000
Jahre bewegt. Diese Kunst beruht auf der Bedeutung, welche die schriftliche
Aufzeichnung der Musik zum ersten Mal gewonnen hat: Schrift, um
das Verklingende festzuhalten, aber auch Schrift, um das noch nicht
Klingende in die Zukunft zu projizieren. Durch die Erfindung der
Schrift ist erst die Figur des Komponisten entstanden. Ein Komponist
ist ein Mensch, der Musik nicht mehr nur in der Tätigkeit des
Singens und des Instrumentalspiels entwickelt, sondern der ihre
zeitlichen Strukturen durch räumliche abstrakte Symbole ausdrückt
– Symbole, die vom Ausführenden erst gelesen, dann verstanden
und endlich wieder in lebendigen Klang umgesetzt werden müssen.
Und schon sehen wir, wie auch der Interpret als zweitgeborenes Kind
der Schrift das Tageslicht erblickt hat. Bedenken wir noch, dass
sich im Laufe der Generationen ein immer größerer Schatz
solcher Dokumente ansammeln wird und dass die Zeugnisse der verschiedenen
Generationen immer mehr Neuerfindungen aneinanderreihen werden,
so ist auch klar, dass hier sich ganz von alleine ein Ort gebildet
hat, an dem der Musikologe, der Historiker, der Kritiker ihre Arbeit
verrichten müssen: ein Ort, an dem die Disziplin von „Schule“
herrschen muss, von Systematik und Ordnung. Die Schrift hat der
Musik also Drillinge geschenkt, und in einer Dreifach-Struktur finden
wir das moderne Musikleben vor uns. Es funktioniert nur durch eine
verborgene Teamarbeit zwischen den innovativen Kräften der
Komponisten, den bewahrenden und ordnenden Kräften der Schulmänner
und der zwischen Vergangenheit und Zukunft vermittelnden, in der
Gegenwärtigkeit unserer konkreten Lebenszeit stattfindenden
Tätigkeit der Interpreten.
Vom Schöpfer zum Umformer
Da dies ja nun eine Dankesrede sein soll, meine Damen und Herren,
ist es angebracht, jetzt der Landesregierung dafür zu danken,
dass sie unsere heutigen Preisträger so feinsinnig als symbolische
Drillinge ausgesucht hat. Darüber hinaus möchte ich aber
die besondere Eigenart dieses Preises selbst loben – sozusagen
einen Preis des Preises anstimmen. Denn dieser Preis rückt
schöpferische Arbeit, interpretatorische Vermittlung und Wissenschaft
in unmittelbare Nähe und unterscheidet sich darin von anderen
Preisen, welche die Leistung von Einzelpersönlichkeiten in
den Mittelpunkt stellt. Letzteres ist zwar in einer Zeit, welche
die Vermittlung im Allgemeinen gegenüber der schöpferischen
Arbeit maßlos überbewertet, notwendig; die Struktur des
hessischen Preises spiegelt aber eine bestimmte Erfahrung wider,
die wache Künstler und wache Kunstfreunde in den vergangenen
Jahrzehnten der Postmoderne machen konnten. Viel stärker als
in den heroischen Jahrzehnten der Avantgarde schob sich da nämlich
plötzlich der Gedanke in den Vordergrund, dass auch der bedeutendste,
ja der geniale Autor niemals „Schöpfer aus dem Nichts“
ist, der seine Ideen lediglich aus seiner eigenen Individualität
entwickelt: Er ist immer zu einem Gutteil auch Umformer, das heißt
eben: Interpret eines Textes, der ihm aus den vielfältigen
Strömungen der Geschichte zufließt. Diese Tatsache wurde
von den alten Generationen zweifellos meist verschleiert –
während wir heute manchmal ihre schockierende Evidenz etwas
zu explizit darstellen. Aber der Autor verliert nichts, wenn er
diese Erkenntnis nicht mehr verdrängt; seine Mühen und
Schmerzen bei Auswahl und Formung seines Materials bleiben dieselben,
und seinen Platz als Erstgeborener der Schrift, ohne den es weder
Interpreten noch Kunstwissenschaftler geben könnte, kann ihm
niemand streitig machen. Im gleichen Maße aber, wie wir gelernt
haben, den Schöpfer auch als Interpreten zu begreifen, kommen
wir nicht umhin, die Figur des Interpreten von einem bloß
reproduktiv tätigen Handwerker aufzuwerten zu einem Mitproduzenten
dessen, was man den ästhetischen „Sinn“ einer Musik
nennen könnte. So wurde uns etwa von den Interpreten der alten
Generation eine Vorstellung von Bach, von Mozart vermittelt, die
von der Spätromantik geprägt war und den Ausdruck einer
historisch späteren Musik in die frühere hineintrug; zum
Teil war man damals gar nicht mehr im Stande, die grafischen Zeichen
der alten Musik historisch richtig zu lesen. Heute, nach der umfassenden
Arbeit der Wissenschaft an den Urtextausgaben, ist das nicht mehr
möglich, aber es kann uns nun passieren, mit Interpretationen
konfrontiert zu werden, die zwar historisch richtig sind, aber umgekehrt
die expressiven, die individualistisch in die Zukunft weisenden
Eigenschaften Bachs oder Mozarts überhaupt nicht mehr zu verstehen
scheinen. Hier wird auch deutlich, wie die Verantwortung des Interpreten
gerade dann größer wird, wenn er sich seiner Freiheit
bewusster wird: Er muss immer einen doppelten Dialog führen,
den mit der Schulwissenschaft und den mit der Individualität
des von ihm interpretierten Komponisten – sonst wird Arbeit
zur Fälschung. Und was für die Arbeit mit historischer
Musik gilt, ist erst recht wesentlich für seine Auseinandersetzung
mit heute entstehender Musik: wenn er vor einer solchen Konfrontation
davonläuft in einen bequemeren Repertoirebetrieb, so flieht
er in Wirklichkeit vor der Konfrontation mit dem Anspruch des Schöpferischen
überhaupt – und damit auch vor dem Anspruch, den ein
heutiges Bewusstsein an sein eigenes Metier, das des Interpreten,
stellt. Ebenso wird auch der Musikologe, selbst der Historiker nur
durch genaueste Kenntnis der heutigen Musik eine Orientierung für
seine Arbeit des Ordnens und Neuverstehens der Vergangenheit finden
können – und nicht umgekehrt, wie meist angenommen.
Man sollte glauben, dass durch die eben beschriebene Bewusstwerdung
der fließenden Grenzen zwischen Kunstwissenschaft, Interpretation
und Komposition sich im Musikleben eine Intensivierung von teamartiger
Zusammenarbeit ergeben habe. Das Gegenteil ist der Fall. Durch die
auch im praktischen Musikleben sich immer mehr verzweigende Spezialisierung
und die beachtliche Häufung des Fachwissens der Einzelwissenschaft
wie des Repertoires der Interpreten ist die Tendenz zum Sich-Abschließen,
oft auch zur bewussten Verweigerung eines Dialogs gewachsen. Selbst
unter Komponisten schwindet die Bereitschaft, sich mit den Werken
der eigenen Kollegen ernsthaft auseinander zu setzen, und macht
einer starren Selbstprofilierungssucht Platz. Dabei wäre regelmäßige
Teamarbeit nicht nur von Kollegen, sondern auch von Komponisten
und Interpreten, Interpreten und Wissenschaftlern, Wissenschaftlern
und Komponisten so nötig wie noch nie.
Intelligente Kulturpolitik
Ich frage mich, ob genau an diesem Punkt nicht neue Aufgaben für
die Kulturpolitik entstanden sind. Was die praktische Zusammenarbeit
von Interpreten und Wissenschaftlern angeht, so können wir
viel von unseren französischen Nachbarn lernen – denken
wir etwa an die Einführungsarbeit in künstlerische Events
auf hohem Niveau. Noch wichtiger dürfte aber eine regelmäßige
und häufige Zusammenarbeit unserer Orchester, Theater und Solisten
mit Komponisten sein. Diese könnte nicht nur die Komponisten
aus ihrer immer größeren Isolation befreien, sondern
auch die Interpreten vor der Verknöcherung in einem Routine-Repertoire
bewahren. Dazu Anreize zu schaffen, dazu zu ermuntern, dürfte
eine Aufgabe für eine intelligente Kulturpolitik sein, die
viel wichtiger wäre als Repräsentationskunst mit teuren
Stars zu unterstützen. Anstatt gerade die lebendigsten, innovativsten
kaputt zu sparen, sollte sie alle Künstler, die in Institutionen
arbeiten, zu kooperativer Haltung verpflichten. So wie es einen
hypokratischen Eid für die Ärzte gibt oder so wie ein
Beamter einen Eid auf die Verfassung ablegen muss, so sollte man
Künstlern bei Festanstellung einen Eid auf Teamarbeit abverlangen:
man könnte so manch öde Hochschule, in der die interessantesten
Leute kontaktlos nebeneinander herwursteln, in eine blühende
geistige Landschaft verwandeln. Man könnte an manch einem Theater
hohe Summen sparen, die mit schöner Regelmäßigkeit
an teamunfähige auszuzahlende Direktoren fließen. Mit
solchen Summen sollte man lieber Gruppen großzügiger
unterstützen, deren Lebensgrundlage die lebendige Teamarbeit
ist, wie etwa die Junge Deutsche Philharmonie oder die verschiedenen
Ensembles für Neue Musik – und sie von ihren täglichen
Bettelgängen nach neuen Sponsoren befreien.
Sie sehen, meine Damen und Herren, zu welch spekulativen Höhen
mich die Reflexion über die Struktur unseres Preises führt.
Aber ich weiß, wovon ich rede, denn alle frustrierenden oder
quälenden Abschnitte meiner öffentlichen Arbeit –
sei es beim Funk, am Theater oder an der Hochschule – waren
immer gekennzeichnet von einem evidenten Mangel an Teambeziehungen,
während ich seit einigen Jahren zum ersten Mal das ungetrübte
Glück einer dauerhaft funktionierenden Teamarbeit genieße
in der gemeinsamen Arbeit mit Michael Gielen und Sylvain Cambreling
in der Leitung des SWR-Orchesters. Ich bin sicher, dass meine beiden
Mitpreisträger aus ihrer persönlichen Lebenserfahrung
Ähnliches berichten können. Der tiefste Grund für
die immer größere Notwendigkeit von Teamstrukturen dürfte
darin liegen, dass wir einen Grad der Komplexität unserer geistigen
und gesellschaftlichen Situation erreicht haben, der die Bewältigung
von Steuerungsaufgaben aus der alten „monozentrischen“
Führungsstruktur heraus kaum mehr ermöglicht. Die Zeit
der Dogmen und der Potentaten ist vorbei; unsere Kultur ist in einem
ganz allgemeinen Sinn „mehrsprachig“ geworden, von mehreren
kulturellen Modellen beeinflusst. So muss auch eine Hochschule,
ein Orchester, ein Theater „mehrsprachig“ sein, und
das verlangt in letzter Konsequenz polyzentrische Führung:
eben Teamarbeit. Ihr Ziel ist nicht Reduktion von Verantwortung,
sondern eine konzentriertere und effektivere Form von Verantwortung.
Teamarbeit verlangt mehr Disziplin als die Bedienung der alten hierarchischen
Strukturen. Sie verlangt Verzicht auf die Eitelkeiten des Herrschers
und Bereitschaft zum Dialog. Dies alles stellt sich im Äußeren
so dar, weil sich tief in unserem Inneren, ob wir wollen oder nicht,
seit geraumer Zeit ein unerbittlicher Wandlungsprozess abspielt.
Nur noch mit Gewalt gelingt es uns heute, nach dem Erleben der Explosion
des Wissens und der Erfahrung des Sich-Durchdringens aller Kulturen,
die Fülle der Welt auf einen einzigen Nenner zu bringen; Gewalt
aber zerstört und führt zur Lüge – auch und
gerade im Inneren des Geistes. Wir sind dabei zu verstehen, dass
wir eine Vielheit von Denkmodellen brauchen, um unsere komplexe
Situation zu meistern, dass wir lernen müssen, mit Widersprüchen
produktiv umzugehen, anstatt, wie noch die Väter der Avantgarde,
zu generalisieren. Der Komponist an seinem einsamen Schreibtisch
hat die gleichen Probleme wie der Wissenschaftler oder der Politiker:
er darf sich seine Wahrhaftigkeit nicht rauben lassen von den so
oft kurzfristig erfolgreichen einseitigen, eindimensionalen Strömungen
– ob sich diese nun als konservativ oder als fortschrittlich
ausgeben – und schon gar nicht von der billigsten Art von
Generalisierung, die heute gilt: alles aus der Perspektive einer
kommerziell geprägten, sich in den Medien kritiklos selber
feiernden Unterhaltungskultur zu sehen. Wer glaubt, all unsere Probleme
durch den stumpfsinnigen Beat einer die Gegensätze falsch harmonisierenden
Popkultur lösen zu können, wer glaubt, den geistigen Ansprüchen
unseres kulturellen Erbes durch populistische Reduktionen entkommen
zu können, der wird allerdings das Seinige zu dem Ausverkauf
Europas beitragen. Man muss wissen, was man tut.