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nmz-archiv
nmz 2002/12 | Seite 1
51. Jahrgang | Dez./Jan.
Leitartikel
Die Tentakel in der Tasche des Anderen
Rede Mauricio Kagels zur Entgegennahme des Großen Kulturpreises
Rheinland
Am 17. Oktober 2002 wurde der Komponist Mauricio Kagel im Isabellen-Saal
des Kölner Gürzenich mit dem Großen Kulturpreis
Rheinland der Kulturstiftung Rheinischer Sparkassen ausgezeichnet.
Wir geben hier Kagels Dankesrede (leicht gekürzt) wieder.
Ein alter Freund, der sich über meine Arbeit vielleicht noch
mehr Gedanken gemacht hat als ich selbst, meinte, als er von der
heutigen Ehrung erfuhr: „Es ist fast selbstverständlich,
wenn die Stiftung der Rheinischen Sparkassen Sie auszeichnet, da
der Komponist Kagel so sparsam mit Noten umzugehen pflegt.“
Ja, das ist wahr. Ich bin in einem Milieu aufgewachsen, das Wohlstand
schätzte, jedoch Überfluss verabscheute. Auf meine Kunst
übertragen bedeutet dies, dass man das, was man zu sagen hat,
oder jenes, was man glaubt, sagen zu müssen, auf das Notwendigste
reduziert. Wenn man so will, eine Art programmatische Lakonik, wodurch
die Musik weder ausdrucksarm noch mitteilungsschwach werden darf.
Es liegt mir fern, in Zeiten eines fast zwanghaften Sparens in allen
Domänen der Kulturförderung für die Grundsätze
unbarmherziger Sparsamkeit zu werben. Das wäre fehl am Platze,
vergleichbar mit einem absichtlich falsch verstandenen Lob der Torheit.
Man darf – auch wenn man es mit der Entwicklungshilfe gut
meint – keine Rasenmäher in die Sahara exportieren. Aber
die öffentlichen und die privaten Ressourcen sind kommunizierende
Gefäße, die sich gegenseitig ernähren und genauso
gemeinsam am Hungertuch nagen. Mir kommt das Bild von zwei ungleich
großen Kraken in beharrlicher Umarmung in den Sinn, deren
Tentakel den Inhalt der gegenseitigen Taschen ständig prüfen.
Heute wohl eine einführende Parabel über die Lehre der
blanken Leere. Es scheint so, dass eine ideale Balance zwischen
dem Appetit der einen und den Nöten der anderen Seite kaum
erreichbar ist. Die Vorstellung jedoch, dass die öffentliche
Hand nur aus langen, bohrenden Fingern besteht, ist bestimmt abwegig.
Wie viele andere europäische Länder auch erleben wir seit
mehr als einer Dekade früher undenkbare Überraschungen,
die schnel-ler aufeinander folgten, als wir sie verarbeiten konnten.
Ich würde sogar von einem Stau im Aufnahmevermögen sprechen.
Freilich sind die erwähnten Überraschungen zweifelhafter
Natur, sie betreffen fast immer die Ökonomie und die Finanzierung
des Kulturlebens.
Ich erinnere mich noch genau an die gerümpften Nasen und die
erhitzten Stellungnahmen zu Beginn der Subventions-Neuzeit bei der
bloßen Erwähnung des Themas „Private Sponsoring“.
Geber und Nehmer entwickelten seitdem flexible Strategien. Die damals
wohl begründete Befürchtung, dass Vorhaben, Orte, Mitwirkende
und Programme vom Sponsor offen oder subkutan mitentschieden werden
könnten, hat sich nur dort bewahrheitet, wo bereits im Vorfeld
der Projekte ein beidseitiger Konsens die Grundlage bildete. Es
gibt sehr viele und wichtige Beispiele, dass andere Modelle der
Zusammenarbeit möglich sind, ohne dass die Empfänger der
Unterstützung sich gegen Druck und negative Einflüsse
wehren müssen. Aber: Wie viel außerordentliche Musik
und Architektur, wie viele exorbitante Bilder und Skulpturen sind
im 17. und 18. Jahrhundert entstanden, als die Abhängigkeit
von Komponisten, Architekten und Künstlern vom Auftraggeber
total, wenn nicht sogar unterwürfig, lakaienhaft war? Keine
Regel kann im Voraus die Qualität eines neuen Werkes oder den
Erfolg eines neuen Projektes sichern, weder wenn der Täter
abhängig noch wenn er unabhängig ist.
Wahrscheinlich gibt es seit dem Augenblick, als Investoren in schöngeistigen
Produkten auf die Idee kamen, nicht vorher gehörte Musikstücke
in Auftrag zu geben, ein Vabanquespiel der Zuversicht: Hoffentlich
wird das noch unbekannte Opus beachtlich sein! Die Bezeichnung „Kulturindustrie“,
die zuerst Adorno geprägt und erläutert hat, trifft genau
den Kern unserer Tätigkeit. Wie in jeder Sparte handwerklicher
Herstellung befinden sich Künstler und Schriftsteller, Komponisten
und Theatermacher in einem Zustand fortdauernder Abhängigkeit.
Ihre Selbstständigkeit ist reine Theorie, genehm und dienlich
jedoch der Praxis der Steuererfassung. Wir befinden uns in einer
Phase des Umdenkens auf vielen Gebieten und sind bereits Zeugen
mehrfacher Umbrüche. Ein einziges Heilmittel wird die Gesundung
des Systems kaum bewirken, weil in der Kulturlandschaft ähnliches
geschieht wie bei der Reibung tektonischer Plattformen; plötzliche
Erdbebenstöße lassen neue Risse und längst verschüttete
Gräben wiederentstehen. Die Rangfolge der Werte in den uns
vertrauten Skalen gerät dauernd durcheinander, und so sind
Symptome, Diagnosen, Heilung und Nachwehen oft schwer voneinander
zu unterscheiden. Sobald man wichtige Bestandteile des gesellschaftlichen
Konsenses in Frage stellt, insbesondere jene, die das Selbstverständliche
betreffen, kommen viele, in Jahrzehnten mühsam konsolidierte
Strukturen ins Wanken. Autonomie oder Abhängigkeit sind vielleicht
gar nicht antinomisch, sondern als merkwürdig durchdringende
Kategorien zu verstehen. Jedenfalls scheint hier eine vollkommene
Trennung der Rollenverteilung kaum möglich. Ich sprach eingangs
von einer Reduktion auf das Notwendigste. Das schließt jedoch
extreme Armut aus. Notwendigkeiten sind eine Frage der Definition
und in Sachen der Kultur ist bemessene Großzügigkeit
von elementarer Bedeutung. Das Sparen darf nicht blindwütig
verschärft werden, eher sollten die Gründe und Voraussetzungen
für die Notwendigkeiten immer neu durchdacht werden. Daraus
ergeben sich notgedrungen wechselnde Prioritäten. Man kann
Unsicherheit als besondere Variante einer instabilen Sicherheit
definieren. Diese Letzte ist für die langfristige Planung jeglicher
Kulturarbeit aber bitteres Gift. Wer will dieses wohl freiwillig
schlucken?