[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2002/12 | Seite 23
51. Jahrgang | Dez./Jan.
Pädagogik
Geständnisse eines Musikschulleiters a. D.
Das Klavier an der Musikschule
Kein Wunder, dass das Klavier ein so beliebtes Instrument ist!
Alles ist ihm zu eigen: Melodien, Harmonien, Akkorde, Sonaten, Sinfonien,
Solokonzerte, Kammermusik, Oper, Liedbegleitung, Improvisation und,
last but not least, das ganze Spektrum der Musiktheorie. Welches
Instrument kann da mithalten an Vielseitigkeit, Glanz, einer unendlichen
Fülle großartigster Kompositionen und dem Vermögen,
immer autark sein zu können? Vielleicht ist diese Selbstständigkeit
aber auch eine Gefahr, die so manchen Pianisten und Klavierlehrer
in die „Verselbstständigung“, manchmal auch Einsamkeit
führt. Er ist sich dann selbst genug. Ich gebe freimütig
zu, alle diejenigen beneidet zu haben, die in souveräner Form
das Klavierspiel beherrschten. Mein Klavierspiel, an einer deutschen
Musikhochschule mit Studien von Bachpräludien und Mozartsonaten
erlernt, empfand ich immer als Beleidigung, für die ich mich
zu schämen hatte. Gerade deswegen sah ich es als meine Pflicht
an, für den Klavierunterricht an der Lahrer Musikschule bestens
zu sorgen. Im Orchestersaal der Musikschule, in dem nicht nur die
zahlreichen Orchesterproben stattfanden, sondern auch die wöchentlichen,
öffentlichen Vortragsstunden, stand ein wunderbarer Steinway-Flügel,
in Hamburg persönlich ausgewählt. In jedem Unterrichtsraum
standen zwei Instrumente und für die Korrepetitionsstunden
gab es einen Raum, der von seiner Größe her schon das
Gefühl eines kleinen Konzertsaales vermitteln konnte. Die Schüler
der Lahrer Musikschule haben gern Klavier gelernt. In diesem Fall
spreche ich vor allem von den Schülern, die schon früh
angefangen hatten, ein Orchesterinstrument zu erlernen. Es war nun
unsere, der zuständigen Lehrer, Sache, alle Schüler, die
schon einen gewissen Leistungsstand erreicht hatten, beziehungsweise
deren Eltern, für das zusätzliche Klavierspiel zu gewinnen.
Das war meistens recht einfach, jedenfalls einfacher, als zusätzliche
Zeiten für das Ensemblespiel auszuhandeln. Merk-würdigerweise
waren unsere klavierspielenden Orchestermitglieder oft besser als
deren Mitschüler, die sich ausschließlich mit dem Klavier
beschäftigten. Ich spreche auch ausdrücklich von den „klavierspielenden“
Orchestermitgliedern, weil eine Terminierung wie „Klavier
als Zweitinstrument“ irre leiten könnte. Das Klavier
war eben nie das „Zweit-Instrument“, sondern eine Ergänzung
und Bereicherung besonderer Art. So mancher unserer Schüler,
der später eine musikalische Berufslaufbahn eingeschlagen hat,
hätte genau so gut mit dem Hauptfach Klavier sein Studium beginnen
können. Diese Schüler haben allerdings von Anfang an die
Besonderheiten und vielfältigen Möglichkeiten des Klaviers
genutzt: Begleitung eines Geschwisters, Mitwirkung in einer Kammermusikformation,
solistisches Auftreten, Musiktheorie und Harmonielehre. Nur so scheint
mir ein Klavierunterricht an der Musikschule, gefördert mit
öffentlichen Mitteln, überhaupt gerechtfertigt. Oft habe
ich mich gefragt, ob Kinder oder Jugendliche, denen an den besonderen
Ansprüchen und Möglichkeiten des Klavierspiels nicht gelegen
ist, im Privatunterricht, der ja zur Genüge angeboten wird,
nicht besser aufgehoben wären. Mit meinen Forderungen nach
mehr Kooperation, Offenheit und Vielfalt habe ich verständlicherweise
manchen Kollegen aus dem Fachbereich Klavier zur Verzweiflung gebracht
und es wundert mich nicht, dass mich einer, wie mir eine Schülermutter
einmal verschämt gestand, am liebsten ermordet hätte.
Dazu ist es glücklicherweise nicht gekommen. Leider habe ich
unsere Schüler und deren Lehrer niemals Opern oder Sinfonien
in Klavierfassung spielen hören, obwohl es an Literatur dazu
wirklich nicht mangelt. Das lag sicherlich mehr an den zuständigen
Lehrern, wie ich überhaupt die Einfallslosigkeit so mancher
Klavierlehrer bedauert habe. Ein Instrument, musikalisch so umfassend
und vielseitig, sollte doch noch andere Arten des Unterrichts ermöglichen,
als die althergebrachte Form des Nachspielens, des gouvernantenhaften
„neben dem Schü-ler Sitzens“ oder des Wartens auf
große Talente. Eines Tages absolvierten in unserem Orchestersaal
die Schüler des Leistungskurses Musik des benachbarten Clara-Schumann-Gymnasiums
ihr Prüfungsprogramm: 4- bis 6-stimmige Madrigale und Klaviervorträge.
Mein Celloschüler Frank-Michael, heute Mitglied eines renommierten
Orchesters, spielte mehrere Klavierstücke so gut und so schön,
dass ich ihn, von dem ich schon immer dachte, er hätte das
Zeug zu einem hervorragenden Kapellmeister, nach dem Vorspiel ansprach
und meinte: „Frank-Michael, hast Du Dir schon einmal überlegt,
aus Deinem Klavierspiel etwas mehr zu machen?“ Worauf mich
dieser nur entgeistert anstarrte und entrüstet antwortete:
„Aber Herr Matakas, Violoncello ist doch ein Melodieinstrument!“
Stimmt, und das nächste Mal werde ich diese rätselhafte
Antwort erklären!