[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2002/12 | Seite 40
51. Jahrgang | Dez./Jan.
Jazz, Rock, Pop
Mit der Stimme des Staatsfeinds
Verderben Rocker und Rapper die Jugend? Das Beispiel Eminem
Liegt der Ursprung des Bösen in der Popkultur? Sind Rocker
und Rapper für Schulmassaker und Selbstmorde verantwortlich,
können die „Kids“ im Pixelzeitalter ihre Fantasien
nicht mehr von der Realität unterscheiden? Das Beispiel des
weißen Rappers Eminem („Staatsfeind Nr. 1“) lehrt,
wie hysterisch die „liberale“ Mittelklasse in Amerika
und Europa mittlerweile ist – und dass die „Wissenschaft“
alles beweist, was nicht zu beweisen ist.
Auch George W. Bush trägt gern ausgewaschene Jeans, Holzfällerhemden
wie einst Kurt Cobain und Lederjacken, mit denen er in seiner Jugendzeit
zur Not als „wild one“ durchgegangen wäre. Abends
am Kamin greift er zur Gitarre und betört die Gattin mit Presley-Balladen.
Was er anscheinend ganz vergessen hat: dass jeder Auftritt von „Elvis
the pelvis“ in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts
den Untergang des Abendlandes annoncierte, dass sich in seinem Hüftschwung
die sexuelle Revolution verbarg und dass sein Becken per se so pervers
war, dass nur noch ein Doppelbeschluss die ansonsten unaufhaltsame
Verderbnis der Jugend stoppen konnte: Mr. Presley wurde vertraglich
verpflichtet, sich nicht so aufrührerisch zu bewegen; und die
Kameraleute mussten sich auf die staatstragenden Regionen jenseits
des Bauchnabels beschränken.
Eminem mit seinem Produzenten
Dr. Dre im Studio. Foto: Universal
Ein halbes Jahrhundert später gehört Elvis längst
zu den Guten, aber die Fronten stehen wie am ersten Tag. Nur dass
die Zeiten härter und die Paradoxe so paradox geworden sind,
dass das Schwanken zwischen Gutsein und Gewinn die gewieften Seelen
der „moral majority“-Aktivisten von god’s own
nation schier zu zerreissen droht: Einerseits ist nichts so notwendig
wie die tägliche Rendite, andererseits ist sich die fernsehpredigende
und jugendschützende Rechte mit dem „Gottseibeiuns“
Brecht darin einig, dass das Übel in der Welt nicht nur eine
Ursache hat, sondern auch Name, Anschrift und Gesicht.
Die „Lösung“ scheinen die Sticker auf den Album-Covern
zu versprechen, welche („parental advisory“) die Eltern
vor „explicit lyrics“ warnen. So werden die Gewissen
beruhigt und die Gewinne der Industrie doch nicht geschmälert:
denn der Hinweis auf das Böse steigert nur das Begehren; jeder
Rapper, dem das „parental advisory“ verwehrt wird, müsste
die „moral majority“ wegen Geschäftsschädigung
und übler Nachrede verklagen.
Natürlich stehen alle „Diagnosen“ aufgeregter
oder auch nur karrierebewusster Medienwissenschaftler, Pädagogen,
Politiker und Journalisten über die fatale Wirkung von Bildern
und Tönen auf Kinder- und Jugendpsychen auf einer prekären
Grundlage. Die Analyse realer Verhältnisse, dessen, was man
früher „strukturelle Gewalt“ genannt hat, wird
bewusst vermieden. Die Verwüstungen und Verletzungen, auch
die Verwahrlosung, die eine Folge von Egoismus und Konkurrenz, oder
genereller: von Macht-Asymmetrien sind, werden ausgespart, die Ursachen
in den Bereich des Imaginären und Symbolischen, also der Vorstellungen
und Kodes und deren „Beschädigungen“ durch die
Medien verschoben. Als wäre es das Hauptproblem der doch gerade
in dieser Hinsicht sehr versierten, nachwachsenden Generation, zwischen
Fakten und Fiktionen nicht unterscheiden zu können.
Die „Beweisführung“ der Wissenschaft bewegt sich
auf dem trostlosen, aber mittlerweile allgemein akzeptierten Niveau
einer systematischen Verwechslung von „post hoc“ und
„propter hoc“. Also: Der Attentäter oder Selbstmörder
hat vor seiner Tat ein bestimmtes Video gesehen oder einen bestimmten
Song gehört; daraus „folgt“ dann: Video oder Song
waren kausal verantwortlich für die Tat. Und was hat er vor
der Tat noch getan? Einen Tierfilm gesehen, Spinat gegessen, ein
Vaterunser gebetet? Alles Ursachen? Und selbst avanciertere Argumentationen,
die darauf hinweisen, dass das Szenario oder die Waffe eines Täters
einem „Vorbild“ entsprächen, verwechseln die Form,
die eine Tat annimmt, mit ihren Ursachen.
Warum aber zieht ausgerechnet Eminem, so viel staatstragenden
Hass auf sich? Warum erscheint er gefährlicher als seine schwarzen
Kollegen? Nun, die Songs der „Neger-Rapper“ sind zu
sehr Hollywood oder Ghetto, sie folgen drei durchschaubaren Strickmustern.
Die einen beschränken sich aufs pure Posing: Ihre „rhymes“
machen ausschließlich Propaganda für die eigene Poesie
und, mehr noch, Potenz. Die anderen, die „Gangsta-Rapper“,
folgen immer noch dem Muster, das einst Ice-T oder Ice Cube vorgaben,
sie glorifizieren eine Ghetto-Gewalt, die ihre Attraktivität
spätestens dann verloren hatte, als immer mehr HipHop-Stars
der schnellen Kugel zum Opfer fielen. Und die dritten, die Edutainment-Rapper
à la „Public Enemy“, die schwarzes Selbstbewusstsein
predigen, verkörpern klassische „race-music“, sind
also Stimme der Minderheiten.
Eminem alias M. Mathers aber ist ein verlorener Sohn. Er zerstört
als ein böserer Harald Schmidt der amerikanischen Mittelklasse,
der zu rappen begonnen hat, die hohlen, vergifteten und gewalttätigen
Werte und Normen der eigenen Schicht. Seine virtuosen Raps sind
Zerrspiegel, die manches bis zur Unkenntlichkeit entstellen. Die
„böse“ Missachtung der Sprachregelungen entfaltet
eine subversive Kraft. Er raubt Amerika die Grundlagen seiner Selbstgerechtigkeit.
Das tut wirklich weh. Und die Musik, die er zusammen mit dem schwarzen
HipHop-Superstar Dr. Dre entwickelt, ist von einer Vielfalt und
Kraft, die berauschend wirkt.