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nmz-archiv
nmz 2002/12 | Seite 17
51. Jahrgang | Dez./Jan.
Rezensionen
Europäischer Jazz unter dem Hakenkreuz
„Dr. Jazz Collection“ mit Swing aus Paris, Brüssel
und Den Haag zwischen 1939 und 1945
Horst H. Lange, Joachim Ernst Behrendt und Dietrich Schulz-Köhn:
Das waren etwa seit Mitte der 30er-Jahre die maßgeblichen
Jazzproduzenten und -publizisten in Deutschland. Der am 28. Dezember
1912 in Sonneberg, Thüringen, geborene Dietrich Schulz-Köhn
nimmt in der eingangs erwähnten Jazztrias einen besonderen
Platz ein. Fällt sein Name, dann taucht er in der Regel in
einem Atemzug mit den berühmten „Mitteilungen“
auf.
HCF steht für Hot Club
de France, dem Archetypus und Vorläufer des heutigen
Jazzclubs. Ein Booklet aus der „Dr. Jazz Collection“
zeigt verschiedene Konzertprogramme aus dem Paris der vierziger
Jahre.
Die „Mitteilungen“ sind ein faszinierendes Kapitel
der Jazzrezeption im Dritten Reich: verbotene Fanpostille, geheimes
Rundschreiben und mit militärischer Präzision organisierter
Jazznachrichtendienst. Neben Hans Blüthner und Gerd P. Pick
war der Oberleutnant der Luftwaffe Mitglied der Redaktion dieser
ersten deutschen Jazzzeitung, die nicht in Ausgaben, sondern in
Form von Rundbriefen im Zeitraum von März bis Oktober 1943
entstand. Mit der Gründung der „Mitteilungen“ bewies
Schulz-Köhn Courage: „Die Initiatoren waren vor allen
Dingen Gerd Peter Pick und Hans Blüthner. Ich war sozusagen
ihr Zulieferant, weil ich ziemlich viel herumkam und auch weil ich
die Sprachkenntnisse hatte, also in Frankreich, Belgien, und auch
Verbindungen nach Schweden hatte.“ (1)
Gleichzeitig war Schulz-Köhn aber auch wegen seiner unkritischen,
eher affirmativen Haltung gegenüber dem nationalsozialistischen
Regime unter seinen Mitstreitern und Jazzfreunden nicht unumstritten.
Während „Mitteilungs“-Redakteur Blüthner der
Auffassung war: „Wer sich für Jazz interessiert, der
kann kein Nazi sein“(2), relativierte dies ein anderer Zeitzeuge,
Hans-Otto Jungs: „Er war der einzige in unserem kleinen Kreis
von Jazzfans, der nicht wahrhaben wollte, was in Deutschland passierte.
Er verhielt sich wie ein Anti-Nazi, aber wenn du mit ihm sprachst...
nun, es war schizophren.“(3) Schulz-Köhns Einsatz für
den Jazz war nicht erst während des Dritten Reiches entstanden,
Jazz zog sich durch sein gesamtes Leben. Geboren am 28. Dezember
1912 im Sonneberg, lernte er als Kind zunächst Geige, später
dann Klavier. Bereits auf dem Gymnasium in Magdeburg spielte er
Schlagzeug und Posaune in einer Schüler-Combo. Nach dem Abitur
1932 kaufte er sich ein Koffergrammophon und legte mit vier Jazzplatten,
darunter zwei von Duke Ellington, den Grundstock zu einer bedeutenden
Sammlung, für die sich allerdings zu seinen Lebzeiten keine
deutsche Institution interessierte und die deshalb heute im Archiv
der Universität Graz beheimatet ist. Schulz-Köhn studierte
in Freiburg, Frankfurt, Königsberg und an der University Exeter
in England Musik, Sprachen und Volkswirtschaft und schrieb seine
Dissertation über die „Die Schallplatte auf dem Weltmarkt“.
Während der Zeit in Frankfurt studierte er am Hoch’schen
Konservatorium in der – damals in Deutschland einzigen –
Jazz-Klasse von Matyas Seiber. In London hörte er die ersten
Jazzkünstler persönlich: Louis Armstrong und Duke Ellington.
Bereits in den 30er-Jahren bewirkte Schulz-Köhn vieles: 1934
gründete er den ersten deutschen „Swing Club“ in
Königsberg. Er war Mitarbeiter bei vielen Schallplattenfirmen,
beispiels- weise gestaltete er ab 1935 verantwortlich für die
Deutsche Grammophon-Gesellschaft den gesamten Brunswick-Katalog.
Er war damit verantwortlich für die Herausgabe der besten Hot-Jazz
Aufnahmen der zwanziger Jahre mit Chick Webb, Teddy Wilson, King
Oliver, Duke Ellington, Fletcher Henderson, Benny Carter, The Dorsey
Brothers und Louis Proma. Das tat er in Form von Spezialkopplungen
in zwei oder drei Alben à sechs Platten. Später ging
er zu Telefunken und machte dort Ähnliches: Er war unter anderem
dafür zuständig, dass die bekanntesten belgischen Tanzorchester
wie Fud Candrix und Stan Brenders verpflichtet worden sind. Am Krieg
nahm Schulz-Köhn aktiv teil, zuletzt im Rang eines Oberleutnants
der Luftwaffe. Seine Jazzaktivitäten behinderte das wenig,
im Gegenteil, sie weiteten sich aus. Bereits seit 1935 Mitglied
im Hot Club de France (HCF) und befreundet mit dem HCF-Gründer
und Mentor Charles Delaunay, lernte Schulz-Köhn während
des Krieges durch seine Aufenthalte in Paris und in Brüssel,
in Holland und in Schweden die jeweiligen Szenen noch genauer kennen.
Als deutscher Offizier spielte er dabei stets eine Doppelrolle:
Zum einen war er aktiver Offizier, zum anderen muss ihm sehr wohl
bewusst gewesen sein, dass Delaunay nach 1942 den HCF als Tarnung
für die Resistance benutzte. Nach 1945 war er – neben
Joachim Ernst Behrendt und Horst H. Lange – einer der Autoren
und Journalisten, die das Ansehen der Swing- und Jazzmusik in Deutschland
entscheidend förderten. Er war ungeheuer aktiv und hielt zahlreiche
Vorträge über Jazz, neben der Dozentenstelle an der Musikhochschule
Köln war er in den letzten Jahren auch Honorarprofessor an
der FU Berlin und hielt dort eigene Seminare zum Thema Jazz. Im
Winter 1949/50 gehörte Schulz-Köhn, damals bereits Gründer
des Hot Clubs Düsseldorf, zusammen mit Dieter Zimmerle, Olaf
Hudtwalcker und Horst Lippmann zu den Initiatoren der Deutschen
Jazzföderation, einer Vereinigung von „Musikfreunden“
nach dem Vorbild des HCF, des Hot Club de France.
Sprach man jedoch von Dr. Jazz, dann war eigentlich der Rundfunkmoderator
gemeint: Schulz-Köhn moderierte bald nach dem Krieg eigene
Radiosendungen in Hamburg, später dann beim WDR in Köln
sowie beim Deutschlandradio und vielen anderen Rundfunkanstalten.
Beim Westdeutschen Rundfunk moderierte er regelmäßig
die Sendung „Rauhe Rille“, die erst mit seinem Tod im
Jahr 1999 beendet wurde.
„Dr Jazz Collection“ bei Jube
1993 – Schulz-Köhn war damals bereits 81 – bat
ihn ein junger Autor, Jens-Uwe Völmecke um ein Interview. Wie
Dr. Jazz arbeitete auch er als Autor für den WDR und benötigte
O-Töne für seine Sendungen über den Swing und die
Tanzmusik der 30er-, 40er- und 50er-Jahre, über die Swinging
Ballrooms in Berlin, Paris und Brüssel. Es stellte sich schnell
heraus, dass sich hier zwei Gleichgesinnte getroffen hatten, zwei
Liebhaber des Hot Jazz, aber auch der europäischen Tanz- und
Unterhaltungsorchester aus der Swing-Epoche. Die Zeit, die Völmecke
und Dr. Jazz noch hatten, war kurz bemessen: 1995 erkrankte Schulz-Köhn
schwer und erholte sich bis zu seinem Tode am 7. Dezember 1999 nicht
mehr.
Doch die kurze Inkubationszeit hatte genügt: Dr. Jazz hatte
Dr. Völmecke mit seinem Hot-Jazz-Virus angesteckt. So verwundert
es nicht, wenn Völmecke in sein 1997 gegründetes Label
JUBE auch eine Serie unter dem Titel „Dr. Jazz Collection“
aufnahm. Es ist eine Reihe „im Geiste von Schulz-Köhn“,
so der CD-Produzent. Zwei klanglich hervorragend restaurierte CDs
liegen bisher vor: „Place de Brouckère“ mit Swing
und Hot aus Belgien und Holland (1939 bis 1945) und „Swing
im besetzten Paris (1940 bis 1943)“.
Andreas Kolb
Anmerkungen 1, 2 und 3: aus: Bernd Hoffmann „Die Mitteilungen
– Anmerkungen zu einer verbotenen Fanpostille“ in:
Jazz in Deutschland, S. 94f., Jazzinstitut Darmstadt 1996).
Auswahldiskografie
Die ersten beiden CDs aus der „Dr. Jazz Collection“
mit bisher unveröffentlichtem Bildmaterial aus dem Archiv
von „Dr. Jazz“, Dietrich Schulz-Köhn. Place
de Brouckère. Swing und Hot aus Belgien und Holland (1939
bis 1945) CD Nr.: JUBE 1800/Bear Family
Swing im besetzten Paris (1940 bis 1943) CD Nr.: JUBE 1801/Bear
Family