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nmz-archiv
nmz 2002/12 | Seite 20
51. Jahrgang | Dez./Jan.
Rezensionen
Eindrückliche Bilder-Welten
Mussorgskis „Boris Godunow“ und Offenbachs „Orphée
aux Enfers“ auf DVD-Video
Der Film-Regisseur Andrei Tarkovsky und der Theater-Magiker Herbert
Wernicke – zwei völlig unterschiedliche Herangehensweisen
ans Musiktheater. Dennoch gibt es eine Verbindung zwischen den beiden
– auch wenn sie nicht auf den ersten Blick erkennbar ist.
Beide entfalten vor dem Auge des Zusehers eine Fülle von Bildern,
die sich wochenlang im Kopf festsetzen – geradezu ideal fürs
digitale Heimkino.
Bei Herbert Wernickes Inszenierung von Offenbachs „Orphée
aux Enfers“ kommt die aberwitzig rasante Personenführung
hinzu: Es ist tierisch was los. Schon auch wegen Dale Duesing, der
als Himmelsvater mit irdischen Gelüsten über die Bühne
des Théâtre de la Monnaie in Brüssel flitzt; auch
wegen Alexandru Badea als schmachtender Latin-Lover Orphée,
der etliche Stücke für Solo-Violine selbst spielt –
aber nicht nur. Denn der eigentliche Handlungsträger ist ein
Hund: Zerberus, der alles kommentiert und lenkt. In den Pausen gibt
er mit gekonnt platziertem „Wuff, Wuff!“ die Einsätze.
Und wenn Merkur Franck Cassard als fliegende Klatsch-Spalten-Journaille
hereinschwebt und Schmierblätter regnen lässt, wenn unerwartet
eine riesige Dampflokomotive durch das Bühnenbild kracht –
dann hält es einen kaum noch im gemütlichen Fernseh-Sessel.
Genau so, denkt man da, muss Operette heute sein, soll sie nicht
zum seichten Amüsier-Theater verkommen. Herbert Wernicke verlegt
den Olymp ins Ambiente einer gefall- und vergnügungssüchtigen
Schickeria im nachgebauten Brüsseler Jugendstil-Café
„A la Mort Subite“. Das trifft den satirischen Nerv
des Stücks und zeigt auf völlig unverkrampfte Weise, dass
Denken und Amüsieren sich durchaus nicht ausschließen
müssen. Sein Ensemble dankt es ihm mit spürbarer Freude
und Lust. Das aufmüpfige Orchester unter Patrick Davin unterlegt,
plappert, treibt spritzig voran.
Im Vergleich dazu gleitet man in Tarkovskys Inszenierung von Mussorgskis
„Boris Godunow“ sanft von einem historischen Ereignis
ins nächste. Und man kann sich kaum entscheiden: Erzeugen die
lebendig arrangierten Massen-Szenen die eindringlicheren Tableaus?
Die Bewegungen der Sänger? Das Hell-Dunkel-Spiel des Lichts?
Viele andere Eigenheiten der Aufzeichnung aus St. Petersburg wären
noch zu nennen; viele Situationen, die im Gedächtnis bleiben.
Was sie verbindet: Tarkovsky arbeitet mit Mitteln des Films, der
sein eigentliches Metier war. Das führt zu einer ganz eigenen
Bilder-Sprache, die man unbedingt einmal gesehen haben sollte, weil
sie seines gleichen auf der Opernbühne sucht.
Robert Lloyd singt die Titelpartie. Und wer Boris Christoff in
der Dokumentation „The Art of Singing“ in dieser Rolle
erlebt hat, wird zugeben müssen: Lloyds Stärken liegen
eher auf darstellerischer Seite. Sein Gegenspieler macht es ihm
aber auch nicht einfach: Alexei Steblianko rückt mit gestisch-idiomatischem
Gesang in den Mittelpunkt eines echt-russischen Ensembles. Dazu
kommen die gefallsüchtige Marina von Olga Borodina mit schön
gezeichneten Phrasen und die Hinterlist in Person: Sergei Leiferkus
als Rangoni – im 3. Akt ergeben sie ein unbezwingbares Trio.
Bei Valery Gergiev wird die Musik zum Spiel mit herbstlichen Farben
und ruhigen, warmen Klängen.
Oliver Wazola
Mussorgski:
Boris Godunow Philips/Universal 2 DVD 075 089-9 (221‘) Offenbach:
Orphée aux Enfers; Alexandru Badea (Orpheus), Elizabeth
Arthaus/Naxos DVD 100 402 (143‘)