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nmz-archiv
nmz 2002/12 | Seite 30
51. Jahrgang | Dez./Jan.
ver.die
Fachgruppe Musik
Ich will die Schattenseite sehen
Raus aus dem sozialen Treibhaus: Die israelische Musikerin Meira
Asher
Die israelische Künstlerin Meira Asher gewährt intensive
Einblicke durch die Fenster zu den zahlreichen Höllen dieser
Welt. Ob Gedanken von Selbstmord-Attentätern, Folter- und Vergewaltigungsopfern
oder Tabu-Themen wie AIDS – die Komponistin lässt das
Leiden der Menschheit beredt werden und zwar in einer Sprache, die
bewusst auf Sentimentalität, Theatralik und falsches Pathos
verzichtet.
Pop- und Performance-Künstlerin:
Meira Asher. Foto: Kunst & Kultur
Die Israelin ist in Tel Aviv geboren und aufgewachsen. 1998 verließ
sie ihre Heimat via Europa. Nach kurzen Aufenthalten in London und
Ljubljana arbeitete sie ein Jahr in Berlin. Heute lebt Meira Asher
in Den Haag zwischen Pop- und Kunstmusik. Zur Zeit arbeitet Meira
Asher an einer zyklischen Komposition für ein neues Album.
Zudem beteiligt sie sich an einer Gruppenausstellung unter dem Titel
„Rock Action“ in Bologna. Dort präsentiert die
Künstlerin eine Video-, Bilder- und Sound-Installation, die
auf der Zeugenaussage des liberianischen Mädchens Josephine
Kamara basiert, das von Soldaten vergewaltigt wurde. Im nächsten
Jahr will sie eine erweiterte Version dieser Installation in Liberia
ausstellen.
Susann Witt-Stahl: Wann haben Sie angefangen, sich mit Musik
zu befassen und mit welcher Art von Musik sind Sie zuerst in Berührung
gekommen?
Meira Asher: Mit klassischer Musik. Als Kind habe ich sieben
Jahre lang Klavier gespielt. Dabei lernte ich auch automatisch Theorie
und Gehörbildung. Nachdem ich 14 Jahre alt geworden war, wandte
ich mich einige Jahre von der Musik ab.
Witt-Stahl: Welche Musik hat Sie am meisten beeinflusst?
Asher: Den ersten Stil, der mich wirklich berührte,
lernte ich mit 17 kennen. Es war nordindische Klassik. Ich fühlte
mich sehr von Perkussion, von Rhythmus als Sprache angezogen.
Witt-Stahl: Warum sind Sie nach Europa, speziell Deutschland
gegangen?
Asher: Ich fühlte mich schon immer instinktiv von Deutschland
angezogen. Das ist eine sehr emotionale Angelegenheit. Eine Sache,
die mich neugierig machte, war, wie rapide sich Deutschland verändert
hat, vom Zweiten Weltkrieg bis heute. Es ist sehr interessant zu
beobachten, welche Entwicklung das Land im Vergleich zu Israel durchlaufen
hat.
Denn es existiert eine sehr enge historische Verbindung zwischen
diesen beiden Nationen. Ich wollte die Orte besuchen, die heutige
und ehemalige Europäer in der Vergangenheit verbunden haben.
Das ist aber nicht der einzige Grund: Ich habe europäische
Wurzeln. Die eine Hälfte meiner Familie stammt aus Polen, Russland
und Litauen, die andere aus Bulgarien. Besonders in Ostdeutschland,
als ich in Ostberlin am Prenzlauer Berg lebte, hatte ich das Gefühl,
als würden sich Nervenenden in meinem Kopf verbinden.
Witt-Stahl: Welche Herausforderungen bieten Holland und
Deutschland für Sie als Künstlerin? Was vermissen Sie
in Europa?
Asher: Darauf kann ich nur eine paradoxe Antwort geben:
Einerseits herrschen in Europa relativ stabile Verhältnisse,
soweit es um ökonomische und soziale Bedingungen geht. Wenn
hier Probleme auftreten, werden in künstlerischen Bereichen
nicht gleich Eingriffe vorgenommen. Ein Künstler, der aus einem
leidgeprüften Land kommt, genießt diese Stabilität
natürlich. Auf der anderen Seite vermisse ich den Schmerz in
dieser entspannten Umgebung. Ich fing an, mich darüber zu beklagen,
dass alles so bequem und dekadent ist, zwar so viel Geld da ist,
aber keine kritische Kultur mehr. Es existiert so viel schlechte
Kunst; Europa ist überflutet damit. Die Tatsache, dass es hier
vergleichsweise wenig Schwierigkeiten gibt, fördert auch die
Mittelmäßigkeit.
Witt-Stahl: Auf welche Weise hat Europa Sie als Künstlerin
verändert?
Asher: Eine Künstlerin, die in ihrer Heimat arbeitet,
lebt in einer Art Treibhaus. In einem kleinen Land wie Israel ist
es relativ einfach, schon innerhalb weniger Jahre nach Beendigung
eines Studiums an einer Kunsthochschule, ein Star zu werden. Damit
tötet die Gesellschaft ihre eigenen Künstler, denn sie
haben nicht genug Zeit, sich zu entfalten, sich den Kritikern zu
stellen und Erfahrungen auszutauschen. Und so ist man in seiner
künstlerischen Entwicklung bald am Ende der Fahnenstange angelangt.
Im Ausland zu arbeiten, der Verlust der Unmittelbarkeit erfordert
wesentlich mehr Aufwand. Das gilt besonders, wenn man häufig
seine Umgebung wechselt und sich mit künstlerischen Projekten
jenseits des Mainstreams beschäftigt.
Witt-Stahl: Wie reagieren das israelische Publikum und die
Kritiker auf Ihre Musik?
Asher: Sie versuchen immer wieder, mich als politisch motivierte
Künstlerin zu kategorisieren, was ich gar nicht leiden kann.
Man muss sich nicht auf eine Seite schlagen, um Situationen zu beschreiben.
Ich möchte Ereignisse durch mein Wirken zur Erscheinung bringen,
aber keine Meinungen projizieren, denn das ist so einfach und genau
das, was Politiker tun.
Witt-Stahl: Was konkret wirft man Ihnen vor?
Asher: Nach einer Aufführung von „Spears Into
Hooks“ in Berlin interviewte mich ein Journalist von Ma’ariv,
einem der bekanntesten Mainstream-Magazine in Israel. Außer
seiner Meinung, die ihn als Vertreter des rechten Lagers auswies,
schrieb er nur Lügen über mich. Er behauptete beispielsweise,
dass ich in einer Uniform der Hitler-Jugend auftreten würde.
Mir wurde unterstellt, ich würde direkte Parallelen zwischen
dem Holocaust und getöteten Palästinensern ziehen. Ich
habe das nicht kommentiert, denn ich will keinen Krieg mit diesen
Leuten anfangen. Es gibt interessantere Auseinandersetzungen. Später
erfuhr ich, dass meine Arbeit sogar Thema einer Anfrage im Parlament
war, weil ich ein Stück über Birkenau komponiert habe
und ein Tabu berührt habe. Und das, obwohl ich es auf eine
sehr persönliche Art beleuchtet habe, ohne eine politische
Meinung zu propagieren. Wenn man sein Land verlässt, realisiert
man oft gar nicht, was sich da hinter seinem Rücken zusammenbraut.
Witt-Stahl: Der Musikkritiker Joe Lockard bezeichnete Ihr
Album „Spears Into Hooks” als Abschied, als Distanzierung
vom Nahen Osten. In seiner Rezension klingt der Vorwurf des Verrats
an.
Asher: Ich habe seine Kritik gelesen und finde sie sehr
flach. Ich lehne es ab, den Nahen Osten in den Fokus des Weltinteresses
zu stellen, denn es gibt auch an anderen Orten gravierende Probleme.
Ich habe das Selbstmitleid satt, das einige Israelis an den Tag
legen.
Einige Kräfte haben ein Interesse daran, diesen Konflikt dauerhaft
in den Schlagzeilen zu halten, die USA beispielsweise: Der Krieg
soll weiter gehen. Natürlich bin ich strikt dagegen. Auf meinem
„Infantry“-Album habe ich daher bewusst auf konkrete
Bezüge zum Nahost-Konflikt verzichtet, allerdings auch, weil
ich mich nicht als politische Künstlerin verstehe. „Spears
into Hooks“ ist übrigens komplett in Israel konzipiert
worden. Ich habe sogar meinen Aufenthalt in Israel verlängert,
um dieses Album noch vor Ort fertig stellen zu können. Ich
habe mich nicht vor einer Auseinandersetzung mit dem Nahen Osten
gescheut, ganz im Gegenteil: Ich habe im Holocaust-Museum Yad Vashem
in Jerusalem recherchiert und mich monatelang mit Zeugenaussagen
von Holocaust-Überlebenden beschäftigt, aber mich auch
mit der Situation der Palästinenser befasst.
Als ich jung war, habe ich sehr jüdisch gedacht. Heute bezeichne
ich mich nicht mehr als jüdisch. Besonders in der gegenwärtigen
Situation lege ich Wert auf die Feststellung, dass Judaismus eine
Religion ist. Ich bin nicht religiös, also bin ich keine Jüdin.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich bin ein Israeli.
Witt-Stahl: Sie arbeiten in Ihrem Werk mit vielen semantischen
Verweisen. Ein typisches Beispiel ist die Verwendung eines Strauß-Walzers
in dem Titel „Weekend Away Break“, der den KZ-Tourismus
thematisiert.
Asher: Ja, den Walzer habe ich als Symbol für populäre
Kultur gewählt. Als der Holocaust geschah, war Walzer-Musik
so populär wie heute Disco-Musik.
Ich habe den Walzer mit dem Holocaust in Beziehung gesetzt, um aufzuzeigen,
dass der Holocaust für viele Juden und Deutsche den Stellenwert
von Disco-Musik hat, also von Pop-Kultur. Natürlich tue ich
das in kritischer Absicht, denn der Holocaust wird als Entschuldigung
herangezogen für das, was heute in Palästina, in Israel
passiert.
Witt-Stahl: Wollen Sie damit sagen, dass der Holocaust
von der Kulturindustrie vereinnahmt worden ist?
Asher: Exakt. Daraus ist ein ganzer Industriezweig entstanden.
Das Gespräch führte und übersetzte
Susann Witt-Stahl