Konzert- und Situationsbericht zu „…antasten…“
6. internationales Pianoforum Heilbronn
Sven Thomas Kiebler spielte Lachenmanns „Schattentanz“
als wollte er tatsächlich die Verhältnisse zum Tanzen
bringen. Die kleine Sekunde h-c in höchster Lage repetiert,
brachte erst das benutzte Intervall zum Verschwinden, um dann die
Nebengeräusche zur Hauptsache werden zu lassen. Der Hintergrund
wurde Vordergrund. Gehört wurde nicht mehr ein Lied auf dem
Klavier, sondern tatsächlich Klavier auf einem Lied wie Lachenmann
selbst einmal über seine Entdeckungsreise ins Innere eines
„allzuvertrauten Möbelstücks“ anmerkte. Ein
entfesselter 6/8-Rythmus, ein gehetztes Siciliano schob alles, was
normalerweise „dahinter“ ist nach vorn, schuf einen
fluroeszierenden Hallraum, ließ die Verhältnisse tanzen.
Ernst-Helmuth Flammer. Foto:
Oswald
Letzteres war vom Freiburger Pianisten im Übrigen keineswegs
nur musikalisch gemeint. Nach dem Konzert trat Kiebler zusammen
mit dem Komponisten Michael Quell vor das Publium, um im Namen aller
beteiligten Künstler ein unmissverständliches Wort zu
den Umständen zu sagen, unter denen die 6. „antasten“-Ausgabe
stattfand. Zum ersten Mal in der zehnjährigen „antasten“-Geschichte
war das 150 Seiten starke Programmheft mit Protestnoten gepflastert.
(Vgl.
nmz 9/03, S. 10) Drastische Mittelkürzungen der öffentlichen
Hände sowie das Abspringen von Hauptsponsoren hatten das eigentlich
immer schon unterfinanzierte, vom Verein Kulturring Heilbronn veranstaltete
Festival diesmal tatsächlich an den Rand des Scheiterns getrieben.
Verantwortlich für diese Schieflage waren auch verheerende
Interviewäußerungen des Heilbronner Oberbürgermeisters
und Kulturdezernenten. Ohne Not hatte dieser im Vorfeld ein überregional
angesehenes Festival, das seit zehn Jahren mit dem Namen der Stadt
Heilbronn verbunden ist und dieser internationale Reputation eingespielt
hat, als einen der „Neckarschifffahrt“ vergleichbaren
„Randbereich“ bezeichnet, für den er sich „bei
steigendem Finanzdruck nicht stark machen würde“.
Was den Gegenwarts-Komponisten gern vorgeworfen wird, Dissonanzen
unaufgelöst stehen zu lassen – dafür hatte die (Heilbronner)
Politik diesmal peinlicherweise selber gesorgt. „…antasten…“
angetastet – diese Meldung sollte allerdings nicht das letzte
Wort behalten dürfen, meinten jedenfalls Kiebler und Quell,
als sie insbesondere das anwesende Heilbronner Publikum aufriefen,
ihr Neue-Musik-Interesse gegenüber den politischen Repräsentanten
nachhaltig zu bekunden. – Ausgang ungewiss. Künstlerisch
war der Gründer und Kurator des Internationalen Pianoforums
Heilbronn, der Musikwissenschaftler und Komponist Ernst-Helmuth
Flammer, auch diesmal wieder der Empfehlung von Goethes Theaterdirektor
gefolgt, vieles zu bringen – 30 Veranstaltungen mit Gesprächs-
und Porträtkonzerten, Symposien und Diskussionen an fünf
Tagen. Darin eingepackt der diesmalige Themenschwerpunkt: neue Klaviermusik
aus Italien.
Trotz eines durchweg hohen interpretatorischen Niveaus hinterließ
deren Präsentation allerdings einen eher zwiespältigen
Eindruck. Die vom Klavierduo Notarstefano/Risaliti vorgestellten
Arbeiten einer nicht mehr ganz jungen Komponistengeneration hielten
sich ans Atmosphärische, an ein Nachzeichnen eklektischer Sujets,
einschließlich angestaubter Theatergesten wie Sich-Hüte-Aufsetzen,
pantomimische Aktionen und dergleichen. In Nicola Cisterninos „Pianopiano
– Ommagio a Joseph Beuys“ verstummte die Musik schließlich
völlig, verwandelte sich in eine Geräusche absondernde
Plastik. Der 1960 geborene Komponist hatte den Konzertflügel
mit schwarzem Tuch verhängt und seine Pianistin Silvia Belfiore
darunter versteckt: neue Klaviermusik als allegorisierendes Musiktheater.
Nach soviel Schöngeisterei war es an dem 1955 geborenen römischen
Komponisten Diego Minciacchi, ein alter Bekannter nicht nur beim
Heilbronner Avantgardefestival, andere Töne anzuschlagen. Seine
von James Clapperton in Horowitz-Manier vorgetragenen Klavierkompositionen
der Jahre 1979 bis 2003 gaben sich als unmissverständlicher
Kontrapunkt zu jedweder ästhetischer Unverbindlichkeit und
Beliebigkeit.
Neben den luziden Auftritten von Sven Thomas Kiebler und Nicolas
Hodges mit einer genialen Interpretation von Beat Furrers „Phasma“
war es dieses von Clapperton grandios gestaltete Minciacchi-Porträtkonzert,
das zu den Höhepunkten eines über Strecken durchwachsenen
„antasten“-Jahrgangs 2003 gehörte. Zugleich war
damit klar, dass in einer global gewordenen Welt jede Art national-räumlich
gebundene Porträtgalerie ihre Eigenständigkeit eingebüßt
hat.
Doch solange sich ein Internationales Pianoforum wie das Heilbronner
Festival dessen bewusst ist und sich selbst aus gefährlichen
Untiefen zu retten versteht, solange braucht man sich, was die künstlerische
Zukunft dieses einzigartigen Schmelztiegels neuer Klaviermusik und
Pianistik anlangt, keine Sorgen zu machen.