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nmz-archiv
nmz 2003/12 | Seite 1
52. Jahrgang | Dez./Jan.
Leitartikel
Das Musiktheater und der Kick des Kritikers
Einige Anmerkungen zu einer schwierigen Dreiecksbeziehung ·
Von Gerhard Rohde
Ein Opernabend besteht aus drei Bauelementen: das erste ist die
komplette Aufführung selbst, das zweite wird vom Publikum gebildet,
das dritte addiert sich aus der Zahl der anwesen-den Kritiker. Zwischen
den Elementen kommt es immer wieder zu Reibungen bis zum Funkenflug.
In der Zeitschrift
„Oper & Tanz“ der Vereinigung deutscher Opernchöre
und Bühnentänzer (VdO) feuert deren Mitherausgeber Stefan
Meuschel eine kritisch-spöttische Breitseite auf den Musikredakteur
der Süddeutschen Zeitung, Reinhard J. Brembeck, ab. Anlass
war dessen Kritik zu Glucks „Orphée et Eurydice“-Aufführung
in der Bayerischen Staatsoper München. Wir drucken Auszüge
von Meuschels Philippika
auf Seite 48 ab. Das Thema selbst greift über den aktuellen
Vorgang hinaus: Das Verhältnis zwischen den „Elementen“
scheint immer öfter gestört. Was ist?
Man müsste jetzt eine Reihe von Verhaltensmodellen entwickeln,
die sich aus einem Opernabend in der Dreiecksbeziehung ergeben könnten.
Erstes Beispiel: Die Aufführung, besonders die Inszenierung,
präsentiert sich sorgfältig erarbeitet, aber konventionell
im Zuschnitt. Folge: Das Publikum ist angetan bis begeistert. Der
Opernkritiker findet alles eher öde, langweilt sich und verfasst
eine entsprechende Kritik. Tendenz: lustlos geschriebener Verriss
oder pointiert-höhnendes Wort-geklingel zum Beweis der eigenen
„literarischen“ Brillanz. In der Redaktion sammeln sich
entsprechende Protestbriefe aus der Leserschaft. Tenor: der Kritiker
sei wohl nur dann zufrieden, wenn ein Regisseur ein Werk auf den
Kopf stellt. Einem selbst habe die Aufführung sehr gut gefallen.
Einige Leser allerdings amüsieren sich auch vornehmlich nur
über das brillant formulierte Wortgeklingel – auch damit
muss man rechnen. – Die Operndirektion schweigt in der Regel
dazu, und das ist nur klug.
Zweites Beispiel: Vor lauter analytischen Obsessionen des Regie-Teams
ist vom bekannten Werk kaum noch etwas zu erkennen, nur die Musik
und der Gesang erinnern einen noch daran, dass man in „La
Traviata“ oder im „Troubadour“ weilt. Das Publikum
versteht nichts mehr, schäumt und ruft Buh! Der Kritiker aber
erkennt und genießt die subtile interpretatorische Palimpsest-Forschung
auf der Bühne und schreibt eine enthusiastische Rezension.
Die Leser, die auch in der Oper waren, begreifen nun auch die Welt
nicht mehr, schimpfen schriftlich bis zur Unflätigkeit auf
Opernmacher und Kritik und drohen mit Kündigung des Abonnements
von Zeitung und Theater gleichzeitig. Die Opernintendanz schweigt
auch hier klugerweise, doch die Kündigung des „Blattes“
könnte für den Kritiker womöglich bei der gegenwärtigen
Krise der Zeitungen intern gefährlich werden. Nach diesen beiden
Schemata verlaufen hauptsächlich die lauten oder auch stummen
Diskurse zwischen den drei Parteien.
Dabei wäre alles ganz einfach, wenn einige Gegebenheiten
beachtet würden. Es gibt aufregende, intelligente Neu-Inszenierungen
einer alten Oper, und es gibt ziemlich dümmliche Neu-Inszenierungen
einer alten Oper. Ebenso sieht man traditionelle Darstellungen alter
Opern, die eine hohe Qualität auszeichnet, und man sieht traditionelle
Darstellungen, die nur noch lieb- und gedankenlos zusammengeschustert
sind nach dem Motto: Hauptsache, der Lappen geht hoch. Dass ein
Kritiker in solchen Aufführungen nicht den „Kick“
empfängt, den er sich für das Verfassen einer Rezension
wünscht, liegt auf der Hand. Er sollte sich aber insofern in
der psychischen Gewalt haben, dass er sich bei allem Missvergnügen
der eigenen „Déformation professionelle“ vergewissert:
Wer alles schon kennt und x-mal gesehen hat, verfällt schon
einmal der Langeweile. Nicht minder die Gefahr: Der Kritiker avanciert
zum permanent lobpreisenden Guru eines bestimmten Regisseurs, seltener
eines Dirigenten, wie überhaupt die Musik samt Sängern
gern in den letzten Absatz einer Kritik rutscht, was wiederum die
beteiligten Künstler sowie die Stimmfreaks unter den Lesern
gegen die Kritik aufbringt. Wenn die wüssten, was für
einen Kampf manchmal ein Kritiker in seiner Zeitung gegen das unablässige
Vordringen der Event-Redaktion führen muss.
Ausgenommen von den immerwährenden Konflikten zwischen den
„Bauelementen“ bleiben vornehmlich Ausgrabungen aus
dem tiefsten Opernfundus, weil keiner die Werke überhaupt kennt,
und neue Opern, weil es für diese noch keine erstarrte Aufführungstradition
geben kann. Der Kriker ist hier genau so „dumm“ wie
der unbedarfteste Besucher. Das sei natürlich nur pointierend
gesagt. Mit der „Dummheit“ aber ist man bei einem ernsten
Problem: Die Oper, vor 400 Jahren in Florenz entstanden aus dem
Wunsch einiger Komponisten und kunstsinniger Aristokraten, die griechische
Tragödie zu rekonstruieren, hat sich im Verlauf ihrer Geschichte
zu einem hochartifiziellen, in Stil, Formen, Ausdruck und Techniken
gewaltig mäandernden Kunstgegenstand entwickelt, der nicht
allein durch seine emotionale Überwältigung (Alexander
Kluges „Kraftwerk der Gefühle“) fasziniert, sondern
gleichwertig auch durch die raffinierte, intelligent eingesetzte
Künstlichkeit seiner komplexen und komplizierten Strukturen.
Das zu durchschauen und zu begreifen, und auf dem Theater umzusetzen,
erfordert von Werk zu Werk, von Inszenierung zu Inszenierung, ein
großes musikalisches, literarisches und geschichtliches Wissen,
große Sensibilität, eine kreative Fantasie, gestalterische
Kraft: von Regisseuren, Bühnenbildnern, Musikern, Sängern.
Und vom Zuschauer/Zuhörer Einfühlungsvermögen und
Neugier. Hierbei sollte sich der Kritiker nicht damit begnügen,
ob er nun den „Kick“ empfängt, um eine Rezension
verfassen zu können. Nur schreibend herumnölen genügt
nicht. Auf ihn kommt es an, wenn dem weniger kundigen Opernbesucher
die notwendigen Informationen zu einer vielleicht äußerst
komplizierten Interpretation übermittelt werden müssten.
Das gilt besonders dann, wenn die Interpretation der einzelnen
Opernaufführung die entsprechende Qualität auszeichnet.
Da wären dann die Opernmacher in der Pflicht. Das ziemlich
dümmliche Verlangen nach dem „Kick“ ist dabei ebenso
kontraproduktiv wie das monotone Einfordern einer nebulösen
„Werktreue“.