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nmz-archiv
nmz 2004/04 | Seite 11
53. Jahrgang | April
Forum
Wer vergibt das Recht auf „Von Du zu Du“?
Zum Feature „Die Pianistinnen Edith Kraus und Alice Herz
Sommer“, nmz März
2004, S. 3
Die Überschrift lässt Großes erwarten. Zwei Pianistinnen,
neunzig und hundert Jahre alt, halten Rückschau auf ihr Leben.
Ihre Erfahrungen scheinen so exemplarisch zu sein, dass die Künstlerinnen
vom Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse geehrt wurden und
die nmz als musikspezifisches Mitteilungsblatt von anspruchsvollem
Niveau eine ganze Seite ihrer Märzausgabe zur Verfügung
stellt. Wer allerdings einen tieferen Einblick in die künstlerische
Karriere zweier Frauen am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erwartet,
wird enttäuscht. Wie sie wurden, was sie sind, erfahren wir
eher en passant zwischen den weitläufigen Erklärungen
zu einer von Missgunst freien „Frauenfreundschaft“ (als
ob Frauenfreundschaften per se von Neid und Missgunst geprägt
seien) und der Schilderung eines vom Terror geprägten persönlichen
Schicksals.
Wie es dazu kam, dass beide Künstlerinnen in einer Zeit,
die mit klaren Rollenzuweisungen operierte, öffentlich wahrgenommen
wurden, erfahren wir nicht. Aus welchen Familien kamen sie? Wer
legte den Grundstein zur künstlerischen Ausbildung? Wo genau
konzertierten sie? Welche Literatur spielten sie? Wie haben sie
die Komponisten ihrer Zeit beeinflusst? Offene Fragen, die mit dem
Satz befriedigt werden: „Für die Geschichts- und Musikforschung
sind sie (Alice Herz-Sommer und Edith Kraus) von großer Bedeutung,
da sie persönlich mit den Komponisten Viktor Ullmann, Pavel
Haas, Gideon Klein, Hans Krasä und Karel Reiner aus der Prager
Zeit und in Theresienstadt sehr gut bekannt waren. Victor Ullmann
schätzte beide Pianistinnen sehr. Alice wurde die 4. Sonate
gewidmet, Edith spielte die Uraufführung der 6. Klaviersonate
in Theresienstadt.“
Dass Viktor Ullmann Handküsse verteilte, wie Alice „kichernd“
erzählt, scheint mir von nachrangiger Bedeutung zu sein. Ebenso
Ediths „überraschter“ Kommentar, dass er sich das
in Theresienstadt wohl abgewöhnt habe.
Was aber machte die Freundschaft zwischen den Komponisten, die
gerade wiederentdeckt werden und ihren Interpretinnen so wertvoll,
dass sie von allgemeiner Bedeutung sind? Haben sie vielleicht bei
der Umsetzung klanglicher Vorstellungen mit ihren klaviertechnischen
Möglichkeiten beraten? Gab es zwischen ihnen fruchtbare Arbeitsfelder?
Nach dem Krieg wurde Alice Herz-Sommer Gründungsmitglied
der Akademie in Jerusalem und Edith Kraus Gründungsmitglied
der Akademie in Tel Aviv. Auch hier hätte man gern mehr erfahren
über die Aktivitäten der Künstlerinnen. Weiter geht
es aber im Text schon wieder mit privaten Befindlichkeiten, wie
häufige gegenseitige Wochenendbesuche und die Sehnsucht der
Freundinnen aufeinander, als die eine nach London zieht.
„Es gibt so viel zu erzählen, wenn sich zwei Menschen
in 67 Jahren so intensiv erleben, wie diese beiden“, heißt
es im Schlusssatz. Das trifft auch auf andere lang andauernde innige
Beziehungen zu, ohne dass daraus ein Anspruch auf öffentliche
Würdigung abzuleiten ist. Mir scheint der Artikel zu schwanken
zwischen der Annäherung an zwei sehr alte Frauen, die im Trubel
des zwanzigsten Jahrhunderts um ihr Überleben kämpften
und dem Versuch einer Würdigung ihres künstlerischen Weges.
Das letzte ist misslungen, das erste in seiner Betulichkeit peinlich.
Wer gibt dem Leser das Recht, mit Alice Herz-Sommer und Edith Kraus
von Du zu Du zu verkehren?
Der Artikel zerrt die beiden Protagonistinnen auf ein Niveau, das
vom Staunen der Autoren über ihr hohes Lebensalter diktiert
wird, und im Leser Bilder der skurrilen aber lebenstüchtigen
Miss Marple hervorzaubert. Nur würde man Miss Marple nie mit
Vornamen anreden.