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nmz 2004/05 | Seite 3-4
53. Jahrgang | Mai
Stüclwerk
Hymne auf das Ende eines tragischen Tages
Charles Ives und sein „Orchestral Set No. 2“ ·
Von Wolfgang Rathert
Erst langsam bricht sich die Einsicht Bahn, dass der amerikanische
Komponist Charles Edward Ives weder ein komponierender Dilettant
noch ein provokatorischer Außenseiter der musikalischen Moderne
war, sondern einer der großen Komponisten des 20. Jahrhunderts,
dessen Musik die Physiognomie der musikalischen Moderne entscheidend
bereichert hat. Wie die zahlreichen Konzerte und wissenschaftlich-publizistischen
Aktivitäten anlässlich der Wiederkehr seines 50. Todestages
am 19. Mai dieses Jahres und das damit verbundene öffentliche
Echo zeigen, lässt sich diese Einsicht mittlerweile aber nicht
mehr revidieren.
Es entbehrt dabei nicht einer gewissen – in der Musikgeschichte
jedoch häufiger anzutreffenden – Ironie, dass es ausgerechnet
sein Altersgenosse Arnold Schönberg (1874–1951) war,
der den Rang Ives’ hellsichtig umriss, als er ihn in einem
bekannten Diktum eine Persönlichkeit nannte, die weder auf
Lob noch Tadel angewiesen sei. Denn es war gerade die beiderseits
des Atlantiks zeitweise heilig gesprochene und zur Ideologie erhobene
Ästhetik und Technik der Wiener Schule, die Ohren und Geist
eine vorurteilsfreie Aufnahme und Auseinandersetzung mit Ives’
Werk unmöglich machte – eines Werks, das einen eigenen
Kosmos darstellt, dessen stilistische Galaxien bis heute noch nicht
restlos erforscht sind. (Ives’ Fragment gebliebenes Hauptwerk
„Universe Symphony“, eine der radikalsten Klang-Utopien
in der Musik des 20. Jahrhunderts, trägt den umfassenden Anspruch
seiner künstlerischen Vision im Titel.)
Charles Edward Ives vor
seinem Haus in West Redding, Connecticut 1948. Foto: Archiv
Während Igor Strawinsky 1966 respektvoll-säuerlich bemerkte,
Ives habe in der Vorwegnahme so vieler Techniken der zeitgenössischen
Musik den „Kuchen“ verzehrt, bevor die anderen überhaupt
am Tisch Platz genommen hätten, hielt Pierre Boulez ihm noch
1983 – knapp zehn Jahre nach der Zentenarfeier zum 100. Geburtstag
Ives’, die erstmals eine umfassende Sicht auf das Œuvre
ermöglichte – mangelnde Disziplin und Logik in der Umsetzung
seiner zweifellos originellen, aber überbordenden Ideen vor.
Diese kritischen bis ablehnenden Sichten auf Ives spiegelten ohne
Frage einen europäischen Standpunkt wider. Bei Strawinsky war
es der Fortschrittsbegriff, den Ives naiv, verbotener- und skandalöserweise
in Frage gestellt und außer Kraft gesetzt hatte; bei Boulez
war es das Postulat einer quasi universal gültigen Norm musikalischer
Logik, die durch die motivisch-thematische Arbeit präsentiert
sei. Auch dahinter steckt wieder eine teleologische Konstruktion,
die das eigene Komponieren als Resultat eines zwangsläufigen
geschichtlichen Prozesses rechtfertigt; glücklicherweise sind
weder der Dirigent Boulez, zu dessen Repertoire-Fixpunkten inzwischen
das Werk Béla Bartóks gehört, noch der Komponist
Boulez – denkt man unter seinen jüngeren Kompositionen
etwa an „Sur Incises“ – der dadurch drohenden
Beschneidung künstlerischer Freiheit und Imagination erlegen.
Musik über Musik
Versucht man also, sich möglichst vorurteilsfrei und im Bewusstsein
der problematischen Wirkungsgeschichte der Musik Ives’ zu
nähern, so muss man – sei es als Interpret, Hörer,
Kritiker oder Musikhistoriker – die Unbequemlichkeit akzeptieren,
dass es in Ives’ Musik keine wirkliche Vorherseh- oder Berechenbarkeit
gibt. Doch ebenso wenig wie das Kriterium der Vorhersehbarkeit ein
Garant künstlerischen Gelingens ist, führt dasjenige der
Unvorhersehbarkeit zu einem durch Willkür oder Beliebigkeit
ausgelösten Scheitern. Ives war sich seiner künstlerischen
Mittel jederzeit bewusst, aber er setzte sie im Sinn und als Symbol
einer „ästhetischen Demokratie“ ein, die der amerikanische
Transzendentalismus im 19. Jahrhundert als Kernstück einer
folgenreichen (in Europa den jungen Nietzsche faszinierenden) ästhetischen
Theorie formulierte.
Diese Haltung Ives’ ging so weit, dass er den von ihm komponierten
und dann in der Aufführung erklingenden Stimmen eine personale
Autonomie zubilligte, die sie gegenüber anderen Stimmen ohne
falsche Rücksichtnahme („regardless of consequences“)
verfochten. Dieser Konflikt konnte selbst zum Hauptinhalt eines
Werkes werden, dessen mögliche Verhärtung Ives durch Ironie
und Humor zu brechen wusste. Auch verurteilte oder gar vernichtete
er (anders als Brahms) seine frühen Werke nicht, sondern verteidigte
ihr Existenzrecht noch gegenüber ihrem einstigen Urheber, indem
er sie – manchmal mehr als autobiografisches denn als künstlerisches
Dokument – bestehen ließ und sogar veröffentlichte.
Aus dieser Toleranz, die Ives freilich schlechter oder bloß
nachahmend-angepasster Musik nicht zugestand, entwickelte er jene
multipolare Musiksprache, die man in Anlehnung an Leonard Bernstein
als meta-stilistisch bezeichnen kann. Ives’ „Musik über
Musik“ ließ andere Musik jeglicher Herkunft als Bestandteil
seiner eigenen Ausdruckswelt zu und machte sie damit auch zum Sprachrohr
oder Vehikel kollektiver und anonymer, oftmals trivialer, abgesunkener
oder von der Hochkultur nicht akzeptierter Musikstile, welche die
multi-ethnische Kultur der USA in vielen Spielarten hervorgebracht
hat und weiter hervorbringt.
Die Meta-Stilistik Ives’ macht auch den Gegensatz von Allgemeinem
und Besonderem oder Norm und Differenz fragwürdig, der in der
europäischen Musikgeschichte so eminent wichtig ist, wie leicht
an der Kontinuität traditioneller Gattungen wie Konzert, Sonate
und Symphonie in der neuen Musik zu sehen ist. Wenn Ives sich der
traditionellen Gattungen und Formen als Gehäuse bediente (was
nicht selten der Fall war), dann als bewusste Entscheidung, hinter
der eine symbolische Absicht stand. Im jeweiligen Formvollzug, also
im „Inneren“ des Werkes, war Ives jedoch frei: Er schuf
darin hoch-individuelle Werke, die das Verhältnis von Norm
und Differenz in dialektischer Weise umkehren, um damit auch eine
Aussage über das Verhältnis von Leben und Kunst zu treffen.
Aura der Verräumlichung
Stünde die Bezeichung „Meisterwerk“ (die eine
gewissermaßen ideale, zum Vorbild werdende Erfüllung
von Norm und deren Aufhebung bedeutet) nicht im Widerspruch zu Ives’
Auffassung einer stets im Fluss begriffenen und offenen Funktion
von Kunst, so wäre sie zweifellos für den „Orchestral
Set No. 2“ angemessen – allerdings mit dem entscheidenden
Zusatz, dass es sich nach wie vor um ein fast unbekanntes Meisterwerk
handelt. Denn zusätzlich zu den ästhetischen Vorbehalten
gegenüber Ives’ Musik werden insbesondere die Orchesterwerke
aufgrund der hohen und zugleich unorthodoxen Ansprüche, die
sie an Ausführung und Besetzung stellen, immer noch sehr selten
aufgeführt. Nur das Diptychon „Central Park in the Dark“
und „The Unanswered Question“ ist relativ häufig
zu hören, auch mehren sich Aufführungen der 4. Symphonie.
Aber weder die vier weiteren Symphonien (unter Einschluss der „Holidays
Symphony“), die „Robert Browning Overture“ und
die beiden Orchester-Sets – mit dem ersten, von Ives mit dem
programmatischen Zusatz „Three Places in New England“
versehenen, machte Nicholas Slonimsky 1931 erstmals das europäische
Publikum in Paris, Berlin und Budapest mit Ives’ Musik bekannt
– haben einen festen Platz im Konzertrepertoire gefunden.
Den Hörern werden damit immer noch faszinierende und bewegende
Hauptwerke der Sinfonik des 20. Jahrhunderts im Konzertsaal vorenthalten,
sodass sie weitgehend auf Tonträger angewiesen sind. Diese
können aber die auf einer bewusst „unfertigen“
Klanglichkeit und Verräumlichung beruhenden Aura von Ives’
Musik, die sich vor allem im Konzert entfaltet, nur sehr bedingt
wiedergeben. (Immerhin ist die Ives-Diskografie in den letzten Jahren
durch maßstabsetzende Interpretationen von Dirigenten wie
Michael Tilson Thomas, Christoph von Dohnanyi oder Ingo Metzmacher
bereichert worden. Und Leopold Stokowski – zusammen mit Bernstein
ein Pionier des Orchesterwerks von Ives – hat nicht nur die
vollständige Uraufführung der 4. Symphonie 1965 verantwortet,
sondern 1970 auch eine großartige Einspielung des zweiten
Orchester-Sets realisiert.)
Visionär und konkret
Die bei ihm häufiger für kleinere, flexible Besetzungen
und Zyklen gewählte Bezeichnung „Set“ verwendet
Ives in den Orchester-Sets, um ihren Unterschied zur Sinfonie zu
markieren. Dies gilt zum einen für die (relative) Unabhängigkeit
der einzelnen Sätze, die auch für sich bestehen können,
wie die ihnen vom Komponisten nachträglich zugewiesenen programmatischen
Beititel andeuten. Zum anderen ergeben die Anordnung der Sätze
und ihre Charaktere die Idee und Dramaturgie einer spezifischen
Form, die sowohl einen Kontrast wie auch auf die Idee einer in-sich-geborgenen
Bewegung enthält. Zwei langsame Außensätze umrahmen
einen bewegteren Mittelsatz: Dadurch schafft Ives einen Gegensatz
von religiöser und weltlicher Sphäre, der für seine
Musik generell außerordentlich bedeutsam ist. Diese Konstellation
entfaltet Spannungsfelder von Erinnerung und Gegenwart, Reflexion
und Aktualität, Visionärem und Konkretem, persönlicher
und kollektiv-geschichtlicher Erfahrung, die beide Orchester-Sets
in je anderer Ausprägung bestimmen.
So beziehen sich die parallel entstandenen Eröffnungssätze
beider Sets thematisch auf den amerikanischen Bürgerkrieg der
Jahre 1860–1965, der ein ebenso prägender wie traumatischer
Einschnitt in der Geschichte der Vereinigten Staaten war, in den
auch Ives’ Vater George (1845–1894) als jüngster
Militärkapellmeister der Nordstaaten involviert war. In den
„Three Places in New England“ entwirft Ives ein musikalisches
Epitaph für das erste afro-amerikanische Regiment der Nordstaaten,
im zweiten Set erinnert die „Elegy to Our Forefathers“
an Stephen Collins Foster (1825–1864), der sich als einer
der ersten weißen Komponisten von der Musik der schwarzen
Amerikaner – deren Versklavung in den Südstaaten bekanntlich
ein Anlass des Bürgerkrieges war – nachhaltig inspirieren
ließ. Ives bezieht sich in diesem Satz auf mehrere von Foster
notierte und harmonisierte Plantagenlieder, darunter vor allem auf
„Massa’s in de Cold Ground“, dessen Refrain „Down
in the Cornfields“ fragmentarisch während des gesamten
Geschehens präsent ist. Die Schwermut dieser aus dem Umkreis
des Gospels stammenden, also Schicksalsergebenheit wie Auflehnung
gleichermaßen thematisierenden Melodien und Texte werden von
Ives in nur 48 Takten und kaum fünf Minuten Spieldauer zu einem
eindringlichen Bild der politischen und religiösen Botschaft
des Krieges verdichtet. Er greift dabei auf ebenso überraschende
wie lapidare Mittel zurück, etwa auf den Einsatz einer Zither
(die hier die Sphäre des Volkstümlichen vertritt wie in
„Washington’s Birthday“ aus der „Holidays
Symphony“ die Mundorgel) oder auf das beschwörende Festhalten
des Intervalls der kleinen Terz als Orgelpunkt, die aus dem Lied
„Old Black Joe“ abgeleitet ist.
Der zweite Satz mit dem eigentümlichen, eine Symbiose von
Natur und menschlicher Aktivität vorstellenden Titel „The
Rockstrewn Hills join in a people’s outdoor meeting“
geht auf eine Reihe ältere Ragtime-Sätze zurück,
die Ives – wie er freimütig in seinen Erinnerungen schreibt
– hier neu zusammengestellt und „aufgewärmt“
hat. Wiederum sind verschiedene Hymnen („Bringing in the sheaves“,
„O Happy Day“) und volkstümliche Melodien („The
Girl I left behind me“, „Yankee Doodle“) verarbeitet.
Ihre Greifbarkeit oder Identifikation tritt aber sehr unterschiedlich
stark im Lauf des Satzes hervor und ist ganz dem metrisch-rhythmischen
Geschehen untergeordnet, das durch den hauptsächlich vom Klavier
getragenen, wie improvisiert anmutenden Ragtime dominiert wird.
Mal konkretisieren sich die Melodien zu einem emphatischen Chorus,
dann wieder erscheinen sie nur als Schemen, als halb bewusste, traumartig
anmutende Erinnerungsfetzen. Ives ging es auch hier einmal mehr
um „Tone pictures of some bygone days“, wie ein anderer
erläuternder Zusatz zu diesem Satz lautet: Die Musik wird zur
Chronik in jenem Sinn permanenter Vergegenwärtigung, wie Proust
seine „Recherche du temps perdu“ verstand. Die nur oberflächlich
massiv anmutende Instrumentation (die einen außerordentlich
anspruchsvollen Klavierpart vorsieht) spiegelt diesen Vorgang als
ein subtiles Hell-Dunkel zwischen realistischen und surrealistischen
Klangflächen und -feldern wider.
Dies gilt in höchstem Maße für den letzten Satz
„From Hanover Square North, at the end of a tragic day, the
voice of the people again arose“, der wiederum mit dem Finale
der „Three Places in New England“ in einer engen, aber
kontrastierenden Verbindung steht. War es dort ein mächtiges
Naturbild („The Housatonic at Stockbridge“), so ist
es hier ein Großstadt-Ereignis, dessen menschliche, aber auch
weltgeschichtliche Dimension Ives zutiefst beeindruckte. Hintergrund
ist die Nachricht über den Untergang des Handelsschiffs „Lusitania“
am 7. Mai 1915 nach einem deutschen Torpedo-Beschuss, durch den
über 1.000 Menschen – darunter auch mehr als 100 amerikanische
Staatsbürger – ihr Leben verloren. Diese Tragödie
führte letztlich auch zum Kriegseintritt der USA im Jahr 1917,
von dem sich Ives als Anhänger des demokratischen Präsidenten
Wilson erhoffte, dass er als „war to end all wars“ in
die Geschichte eingehen würde. Ives beschrieb die Verbreitung
der Nachricht vom Untergang des Schiffs in seinen Erinnerungen wie
folgt:
„Wir lebten in einer Wohnung an der West 11th Street 27,
als ich eines Morgens beim Frühstück in der Zeitung las,
dass die Lusitania versenkt worden war. Ich erinnere mich, wie ich
auf dem Weg zum Geschäft in den Gesichtern der Leute auf den
Straßen und in der Hochbahn einen anderen Ausdruck sah als
sonst jeweils. (…) Nach der Arbeit verließ ich das Stadtzentrum
und ging zur Hochbahnstation in der dritten Avenue am Hanover Square.
Wie ich den Bahnsteig betrat, war eine große Menschenmenge
vor mir, die auf die Züge wartete, welche weiter unten steckengeblieben
waren, und während wir so warteten, hörten wir unten auf
der Straße das Spiel einer Drehorgel oder eines Leierkastens.
Ein paar Arbeiter, die neben den Gleisen saßen, begannen,
die Melodie mitzupfeifen, andere wiederum fingen an, den Refrain
mitzusingen oder mitzusummen. Ein Arbeiter mit einer Schaufel auf
der Schulter betrat den Bahnsteig und stimmte in den Refrain ein,
worauf der Mann neben ihm, ein Wall-Street-Bankier mit weißen
Gamaschen und einem Rohrstock, ebenfalls einstimmte, und schließlich
schien es mir, dass jedermann diese Melodie sang – aber nicht
aus Übermut, sondern aus dem Bedürfnis heraus, ihren Gefühlen,
die sie den ganzen Tag bedrückt hatten, Ausdruck zu geben.
Alles war von einem Gefühl der Würde durchdrungen. (…)
Was war denn dies nun für eine Melodie? Es war kein Broadway-Schlager,
keine Operettenmelodie, kein Walzer, keine Tanzweise, keine Opernarie,
keine klassische Melodie oder irgendeine allgemein bekannte Melodie.
Es war (bloß) der Refrain einer alten Gospel-Hymne, welche
schon in vergangenen Generationen viele Leute tief berührt
hatte. Und zwar keine andere als – ‚In the Sweet bye
and bye‘.“1
Die literarische Eigenart dieser Erinnerung und ihre verschiedenen
Motivstränge – unter ihnen am auffälligsten wohl
die nach-romantische Utopie einer klassenlosen, in der und durch
die Kunst vereinten Gesellschaft – wäre selbst einen
Exkurs wert. Doch wie hat Ives jenes eindrucksvolle Erlebnis musikalisch
umgesetzt? Er teilt im letzten Satz das Orchester in eine Fern-
und Hauptgruppe, und er setzt einen Chor ein, der gleich zu Beginn
die Hymne „In the Sweet Bye and Bye“ singt, dann jedoch
nicht mehr in Erscheinung tritt. Vielmehr entfaltet sich nun ein
rein instrumentales Drama, dessen imaginative Gewalt wohl niemand,
der es einmal gehört hat, wieder vergessen wird: Aus einer
Vielzahl diffuser und keiner Gesamttonalität zuzuordnender
instrumentaler und klanglicher Schichten tritt nach und nach –
realisiert als so genannte „kumulative“ Formkonzeption
– die von den Bläsern intonierte und in den anderen Gruppen
nur zitathaft angedeutete Hymne hervor, die auf dem Höhepunkt
dann mit einer regelrechten Kadenz abgeschlossen wird. Man könnte
hier an eine „per aspera ad astra“-Konstellation im
Sinne Beethovens denken (dessen Sinfonien Ives in höchstem
Maß verehrte): Doch der Kontrast zwischen diffuser Atonalität
und metrisch-rhythmischer Verwischung auf der einen Seite und der
schlichten Tonalität, der wie ein Cantus firmus eingesetzten
Hymne verleiht diesem Satz eine eigentümlich tragische Wucht
und Monumentalität – eine Seite von Ives’ Musik,
die gerade in den Schluss-Sätzen immer wieder anzutreffen ist
und einmalmehr die lebensphilosophische Grund- lage seines Musikdenkens
bezeugt. Autobiografie, Geschichte und philosophisch-religiöse
Maximen verbinden sich in der programmatischen Vorlage und kompositorischen
Umsetzung des letzten Satzes zu einer Vision, die nur Ives in dieser
paradoxen Weise einer „Einheit in der Vielheit“ in Klang
zu verwandeln wusste, in eine Musik, die noch oder vielleicht gerade
heute ein für die Zwischentöne des Lebens und der Kunst
empfängliches Publikum zu erreichen und berühren vermag.
Für Felix Meyer
Wolfgang Rathert
1 Charles Ives: Ausgewählte Texte, hrsg.
v. W. Bärtschi (aus dem Amerikanischen übers. v. Felix
Meyer), Zürich 1985, S. 221 f.
Diskografische Hinweise:
Charles Ives: Symphonies No. 1–4 und Orchestral Sets No.
1 & 2; Cleveland Orchestra, Los Angeles PO, Acad. St. Martin
in the Fields; Z. Mehta, C.v. Dohnanyi, N. Marriner
Decca 466-745-2
Die genannte Aufnahme mit Leopold Stokowski und dem London Symphony
Orchestra and Chorus ist derzeit nur in den USA lieferbar (Music
& Arts). Die von James B. Sinclair betreute kritische Ausgabe
der Partitur ist bei Peer Music erschienen.