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nmz-archiv
nmz 2004/06 | Seite 7
53. Jahrgang | Juni
Stüclwerk
Aus der irdischen Welt katapultiert
Beethovens Klaviersonate c-Moll opus 111 · Von Lars Vogt
Wenn ich nach der Motivation gefragt werde, warum ich mein Leben
mit Musik verbringe, komme ich häufig auf die Sonate op. 111
von Ludwig van Beethoven zu sprechen. Sie hat in
meiner Entwicklung als Pianist und Mensch eine entscheidende Rolle
gespielt.
Schreibt vom Unbeschreibbaren:
der Pianist Lars Vogt. Foto: nmz-Archiv
Mein Lehrer an der Hannoveraner Musikhochschule, Professor Kämmerling,
traute mir das Werk im zarten Alter von 17 Jahren zu. Auf diese
Weise habe ich schon früh durch dieses zentrale Werk der gesamten
Musikliteratur gespürt, in welch ungeheure, unbeschreibliche
(trotz der vielfältigen Versuche von Thomas Mann bis Kundera)
und zutiefst mystische Welten Musik vordringen kann. In der Arbeit
an dieser Sonate – Beethovens letzter – habe ich so
viel über das Leben, über Transzendenz und, wie ich finde
– und das ist sehr persönlich – über Gott
nachzuspüren gelernt wie in keinem anderen Werk. Es erhebt
sich in meiner Ansicht dadurch über jedes andere gewöhnliche
„Musikstück“.
Beethoven war einer der wenigen in der Menschheitsgeschichte, der
mit seinem Genius jenseits aller Alltäglichkeit die Wahrheit
des Daseins und des Jenseitigen wirklich umfassen und erfahrbar
machen konnte. Natürlich spreche auch ich hauptsächlich
von dem Wunder der Arietta, des „Adagio molto semplice e cantabile“,
das bereits so viele Genies zu Deutungen herausgefordert hat, und
das eben doch letztlich völlig „unbeschreibbar“
bleibt (Thomas Mann), da es sich der konkreten Darstellung durch
Worte entzieht. Diese Offenbarung folgt einem höchst ungewöhnlichen,
wilden ersten Satz, der sich in dialektischem Spannungsverhältnis
zum zweiten befindet. Im rhythmischen Stil einer französischen
Ouvertüre beginnt die Sonate, die von Anfang an freilich nur
rudimentäre Verbindung mit jeglicher Konvention pflegt. Schon
nach nur fünf Takten des eröffnenden Maestosos beginnt
ein mehrtaktiges Suchen und harmonisches Irren und Meditieren, das
erahnen lässt, in welch wundersame Welten die Sonate führen
wird. b-Moll, es-Moll, Des-Dur und As-Dur sind nur einige der Stationen,
die – Hoffnung suchend – schon so kurz nach Sonatenbeginn
durchlaufen werden. In Takt 10 ist die Entscheidung für die
Finsternis gefallen, was sich in den Folgetakten durch den Fatalismus
des repetierten „G“ äußert, unterstützt
durch das für Beethoven typische Sforzato auf eigentlich unbetonten
Zählzeiten. Die „Gs“ münden in ein Pianissimo-Tremolo,
das Donnergrollen, das sich in der wilden Verzweiflung des „Allegro
con brio ed appassionato“ entlädt. Joachim Kaiser spricht
zu Recht von einem „wilden, kalten Feuer“, das hier
entfacht wird. Der immer erneute Versuch, in Polyphonie anzusetzen,
der immer wieder scheitert beziehungsweise vom Feuer und der Verzweiflung
zunichte gemacht wird, ist gleichsam psychologisch zu deuten: Der
Sturz in den Abgrund, der durch die Macht des Geistes, des Bewussten,
gebändigt, aufgehalten werden soll. Den kurzen Momenten der
Ruhe gelingt es nicht, Vertrauen auszustrahlen, immer bleibt das
Getriebene im Hinterkopf. Wichtig meiner Ansicht nach für die
Interpretation: Das Tempo darf nur nachgeben, wenn Beethoven es
ausdrücklich vorschreibt! Also beispielsweise noch nicht in
den Takten 50 und 51, die gewissermaßen zum Langsamerwerden
einladen. Dieser Versuchung darf erst im Takt danach (Vorschrift
„meno allegro“) nachgegeben werden! Der Wahnsinn dieses
Satzes mündet erst zum Ende in ein resigniertes C-Dur (eigentlich
ein Wiederspruch in sich), das erschöpft versinkt. Wieder scheint
es mir wichtig, dass man als Interpret nicht in gemütliches
Auslaufen verfällt. Exaktes Halten des Tempos ist wohl kaum
möglich, wenn der Schluss in seiner klanglichen Besonderheit
und dem gewissen Abschiedsschmerz in den Akkorden der rechten Hand
gelingen soll, allerdings sollte der Puls der Bewegung erhalten
bleiben und nicht in bewusstem Ritardando verloren gehen.
Was macht nun den folgenden Variationensatz so einmalig? Einige
der meines Erachtens entscheidenden Elemente seien erwähnt,
wie schon gesagt, ohne auch nur annähernd das Wunder in Worte
fesseln zu wollen. Schon dem Thema ist ein wunderbares Schwingen
immanent, auf das sich der Interpret absichtslos einlassen muss
und das sich dann als beflügelnde und beglückende Konstante
durch den fast 20-minütigen Satz zieht. Diese Absichtslosigkeit
(ausgedrückt in der Vortragsbezeichnung „molto semplice“)
ist meiner Ansicht nach überhaupt das schwierigste interpretatorische
Problem, da es sich in keinster Weise erzwingen lässt. Gleich
einer Meditation kommt man dem beglückendsten Ergebnis umso
näher, je mehr man sich von allem löst: von den Ansprüchen
an expressives Spiel, von „Gefallenwollen“ oder „Rüberkommen“
im Konzert, von aller Ich-Bezogenheit. Wenn man dies beim Üben
immer wieder versucht, kommt man – wenn es gelingt –
in eine Art Trance-Zustand, bei dem die Musik nur noch durch einen
hindurchfließt, ohne dass man sie in irgendeiner Weise „verbiegt“.
Ein Grund wohl, warum die ganz großen Interpretationen dieses
Adagios häufig durch ältere Pianisten erfolgt sind, die
durch ihre Erfahrung imstande waren, diese ungeheure Ruhe auch auf
der Bühne zu verwirklichen.
Das erste Motiv ist Keimzelle des gesamten Satzes. Das Schwingen
intensiviert sich in den folgenden Variationen, es scheint, dass
Beethoven versucht, immer zwanghafter dem Geheimnis des Arietta-Themas
auf die Spur zu kommen (vgl. die sehr schöne Deutung in Milan
Kunderas „Das Buch vom Lachen und Vergessen“). Die rhythmischen
Einheiten des Schwingens werden von Variation zu Variation immer
dichter. Schließlich entlädt sich die gestiegene Spannung
in einer irrwitzigen „rhythmischen Extase“; die Variation,
die Strawinsky – meiner Ansicht nach zu Unrecht, obwohl der
Vergleich sich so aufdrängt – die „Boogie-Woogie-Variation“
genannt hat. Warum ist der Beethoven’sche Wahnsinn dieser
Stelle nicht mit Boogie-Woogie vergleichbar? Weil Boogie-Woogie
eine gelöste, ausgelassen fröhliche Tanzmusik ist, Beethovens
Variation in dem zugegebenermaßen vergleichbaren Rhythmus
(und das Anfang des 19. Jahrhunderts!) hingegen ist der Gipfelpunkt
der Verzweiflung, dass sich die so einfache Arietta, die nicht von
dieser Welt ist, nicht fassen lässt, dass sich die Zeit nicht
im Glück des Anfangs anhalten lässt, sondern – auch
im seligen Schwingen der Anfangsvariationen – unfassbar bleibt.
In dieser berühmten dritten Variation scheint es, als würde
eine Schallmauer durchbrochen, und unvermittelt sind wir in eine
Welt katapultiert worden, die sicher nicht mehr die unsere, irdische
ist. Vergleichbares hat es vorher in der Musikgeschichte wohl nie
gegeben, und auch nach Beethoven gibt es nur in seltensten Ausnahmefällen
Musik von solch visionärer Kraft, wie etwa in besonderen Momenten
bei Mahler. An dieser Stelle setzt, wieder auf der Grundlage des
eigentümlichen Arietta-Schwingens, ein Atmen auf den Synkopen
ein, vergleichbar einer Lunge, die sich aufbläst und wieder
entspannt. Die Musik scheint sich in ein Kreisen um sich selbst
aufzulösen, zunächst im Bass und schließlich in
„schwindelerregender Höhe“ (Mann) im Diskant, wo
die rechte Hand unaufhörlich repetierte pianissimo-Glockenklänge
der linken Hand umspielt. Dies ist der Moment, der mir immer wieder
die Gewissheit (nicht nur die Vermutung) gibt, dass es Höheres
geben muss als das, was wir im Diesseitigen erleben. Es ist der
Moment des Einblicks, der Offenbarung. Erklären lässt
sich nichts mehr, der Genius des späten Beethoven lässt
es uns ganz klar spüren. Nach dieser Ungeheuerlichkeit kommen
wir nur langsam wieder zu uns; das erste dynamische Aufblühen
nach minutenlangem (und unendlich scheinendem) pianissimo, ist wie
eine Umarmung der ganzen Welt und ein Dank für den gewährten
Einblick in die Ewigkeit. In einer bewegenden Coda nimmt das Arietta-Thema
dann Abschied. Und es ist – wie Thomas Mann sagt – „die
Sonate an ihr Ende geführt, ihre Bestimmung ist erreicht.“
Literatur
Thomas Mann: Doktor Faustus, Stockholm 1947
Milan Kundera: Das Buch vom Lachen und vom Vergessen, Frankfurt
a. M. 1983
Joachim Kaiser: Beethovens 32 Klaviersonaten und ihre Interpreten,
Frankfurt a. M. 1975
Diskografie
Beethoven: Klaviersonaten Nr. 28–32, Claudio Arrau
Philips 468912
Beethoven: Klaviersonaten op. 10, Nr. 1 und op. 111, Lars Vogt
EMI 5561362