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nmz-archiv
nmz 2004/09 | Seite 37
53. Jahrgang | September
Rezensionen
Spuren- Suche
Neuerscheinungen aus dem Bereich Chanson
Dass das deutsche Chanson, dessen Hochblütezeit in den 20er-
und 30er-Jahren abrupt vom nationalsozialistischen Regime gekappt
wurde, noch lange nicht tot ist, beweist derzeit eine junge Berliner
Band mit dem unspektakulären Namen „Nylon“. Ganz
und gar nicht künstlich sind nämlich deren Neu-Interpretationen
berühmter Songs von Marlene über Senta Berger, Manfred
Krug und Hildegard Knef. Mit groovigen Elektrosounds entstaubt das
Quintett um Sängerin Niku Sebastian (alias Jazzsängerin
Lisa Bassenge) das Material, das beweist, dass deutsche Texte nicht
automatisch nach Omas Grammophon oder Musikantenstadelschlagern
klingen müssen.
Die Band „Nylon“
zwischen deutscher Chanson-Tradition und neuem Elektrosound.
Foto: Universal
Ins Jetzt transportierte Wiederentdeckungen“, so bezeichnet
DJ Stefan Rogall (Sonar Kollektiv) das Ganze. Und Bassist Paul Kleber
wehrt sich gegen den Begriff „Coverversionen“, denn
„eine Coverband spielt Stücke Eins zu Eins nach, um auf
Partys die Leute zum Tanzen zu bringen. Wir dagegen haben unsere
eigenen Versionen gemacht, die einen völlig neuen musikalischen
Gestus haben.“ Womit er völlig recht hat. Hier wird nicht
mit dem Rrrr lustvoll gerollt, wie das Max Raabe seit Jahren höchst
erfolgreich tut, oder à la Tim Fischer mit der Federboa geworfen
und den Diven der Dreißiger nachgeweint. Wenn Niku rotzig-frech
und trotzdem gefühlvoll die berühmten Zeilen ins Mikro
haucht und nüchtern-trotzig sprechgesangt, wird man wieder
richtiggehend aufgerüttelt, und die bekannten Worte bekommen
eine ganz neue sachlich-moderne Bedeutung.
Und auch die Songauswahl ist wohl überlegt und ausgewogen.
Von dem wunderschönen Comedian Harmonist-Song „Die Liebe
kommt, die Liebe geht“, der schon über 70 Jahre auf dem
Buckel hat, über Marlenes „Johnny“ bis zu Hildegard
Knefs „Im 80. Stockwerk“ oder dem Neue-deutsche-Welle-Song
„Feuerzeug“ – der Bogen ist gekonnt gespannt und
abwechslungsreich, und man hätte nie gedacht, dass dieser dubbige
Clubsound zu diesen alten Klassikern so gut passen kann. Musikalisch
renoviert wurden zudem Lieder von Manfred Krug und Barbara Thalheim,
die eine weitere musikalische Achse in den ehemaligen Osten bilden.
Großstadt-Sound der feinen deutschen Art.
Wesentlich klassischer geht es auf zwei weiteren Neuerscheinungen
des Genres zu: Auf der bei Russki Records erschienenen CD „Das
Leben ohne Zeitverlust interpretiert die Diseuse Susanne Brantl
stimmlich gekonnt und geschmeidig Vertonungen von Kästner-Chansons
des Münchner Komponisten und Rundfunkpioniers Edmund Nick (1891–1974).
Seine Tochter Dagmar hat das Repertoire aus dem Nachlass ihres Vaters
der Schauspielerin und Kabarettistin für Neuinterpretationen
überlassen. Herausgekommen ist dabei ein stimmiges Album mit
Raritäten des deutschen Chanson-Liedgutes aus dem Münchner
Nachkriegskabarett „Die Schaubude“, das Erich Kästner
nach dem Krieg mit Edmund Nick gründete. In der Tradition großer
Vorgängerinnen wie der Knef oder der Hollaender-Muse Blandine
Ebinger spielt und singt Susanne Brantl dieses hochdramatische Repertoire
nach und entführt die Zuhörer in eine andere schmerzbeladene
Zeit. Es geht um Kriegsheimkehrer („Marschlied 1945“),
Witwen und einsame Menschen zwischen den Zeiten, die mit Warten
ihr trauriges Leben fristen. Musik zum Nachdenken und Erinnern.
„Wenn ich mal tot bin…“ nach dem gleichnamigen
Friedrich-Hollaender-Chanson, das der große Kleine der Goldenen
Zwanziger seiner ersten Frau Blandine Ebinger auf den schlanken
Leib geschrieben hat, ist der Titel eines Live-Mitschnitts im Stadttheater
Fürth. Von Pianist Heinrich J. Hartl, der selber ein paarmal
stimmlich tätig wird, begleitet führt Chansonette Jutta
Czurda durch ein buntes Programm mit Klassikern unter dem Motto
„Lieder über Liebe und Tod“. Das hat durchaus Charme
und Klasse, auch die Liedauswahl ist ansprechend: Traditionelles
wie „Stellts meine Roß in Stall“ oder „Marterl“
mischen sich mit den erwähnten Hollaender-Songs, dazu gestellt
wurden Eigenkompositionen Hartls mit Texten von Mascha Kaléko
oder Günter Eich. Groß: Hartls Interpretation von „Wann
i amol stirb“.
Zum 200. Geburtstag des Dichters Eduard Mörike hat der Komponist
und Pianist Peter Schindler mit seiner Formation SaltaCello 14 traurig-schöne
Texte vertont. „Rosenzeit“ entführt in romantische
Welten voller Liebeskummer und Gefühlschaos, jazzige Elemente
treffen auf klassische, und die Mischung geht auf. Sängerin
Sandra Hartmann überzeugt mit klarer ausdrucksvoller Stimme
und schwebt auf dem interessanten Klangteppich von Wolfgang Schindler
(Cello), Peter Lehel (Saxophon, Klarinette, Flöte), Mini Schulz
am Bass, Schindler (Piano) und Herbert Wachter an den Drums. Nichts
zum Nebenbei-Hören, sondern zum Zuhören und Nachdenken
– vielleicht für die ersten kühlen Herbstabende…
Temperamentvoll und abseits ausgetretener Chansonpfade agiert
Vollblutmusikerin Tina Teubner auf dem aktuellen Live-Mitschnitt
ihres Programms „Glücksgalopp – Rettet die Maßlosigkeit“.
Von Bernd Süverkrüp galant am Klavier begleitet reitet
sie durch einen unterhaltsamen Kosmos an Alltagsgeschichten, spielt
selber Geige, singende Säge und Ukele dazu, eingestreut sind
kabarettistische Monologe zu so unterschiedlichen Themen wie Heiratsanträgen,
Ameisenmenschen oder dem Leben in der Warteschleife. Das ist überdreht,
klingt gut und macht Lust auf das sinnliche Leben, das aus dem Vollen
schöpft, denn die „Sehnsucht nach Glück ist groß
– die Angst davor genauso“.
Wer noch eine gründliche Vorbildung braucht oder Nachbereitung
wünscht, dem sei eine Sammlung mit dem Titel „Nur nicht
aus Liebe weinen. Die Großen Damen des deutschen Chansons“
von Reader’s Digest empfohlen: auf den fünf CDs des Digi-Packs
versammelt sich alles, was Rang und Namen hat: Alexandras „Zigeunerjunge“
(siehe auch DVD-Tipp auf Seite 40 dieser Ausgabe!) trifft auf Marlene
Dietrichs „Jonny“, Lale Andersen singt eine Nachtigall
an, Zarah Leander den Wind, der ihr ein Lied erzählt hat, Hildegard
Knef Berlins Sommersprossen und Greta Keller die Sonne, die hinter
den Dächern versinkt. Im beiliegenden Booklet werden die singenden
Damen kurz, aber etwas operflächlich vorgestellt. Als gute
Einführung kann diese Sammlung von 120 (!) Chansons aber allemal
von Nutzen sein.
Kleiner Ausflug in den Jazzbereich: die Sängerin Conny Kollet
bastelt mit ihrem hervorragenden Mitmusikern deutsche Texte für
bekannte Jazzstandards: Aus „Fly Me To The Moon“ wird
hier „Schieß mich auf den Mond“, aus „Brasil“
„Fragil“. Und was eher wie ein gewagtes Experiment klingt,
ist hörenswert unterhaltsam und erinnert an die nonchalanten
Interpretationen eines Manfred Krug, was in diesem Fall als Kompliment
gemeint ist. Und den „Boy von Ipanema“ würden wir
auch gern mal kennenlernen…
Poet und Songwriter Wenzels Erstling „Stirb mit mir ein
Stück“ mit wunderbaren unvergesslichen Liedern wie „Feinslieb“
oder „Ich bin vom grünen Licht so schwer“ (vgl.
DVD-Kritik,
nmz 6-04, S. 40) wurde übrigens wieder neu aufgelegt, wer
also das Original vermisst, ran.
Wem das nun doch alles zu schwer verdaulich und deutsch ist, sei
zum Abschluss auf einen wunderbaren Sampler von Emarcy/Universal
verwiesen. Auf „ParisFétiche“ treffen die Stars
des klassischen französischen Chansons wie Barbara, der kürzlich
verstorbene Serge Reggiani oder der große Jacques Brel auf
moderne Neuinterpretationen etwa von De-Phazz, Polo oder Olivia
Ruiz und Raritäten wie dem Jazzklassiker „My Man“
von Diana Ross.
Ein aufregendes Stelldichein in der Stadt der Liebe, das Lust auf
mehr macht und sicherlich dazu verführt, in alten Chansonplatten
zu kramen und sie sich wieder einmal zu Gemüte zu führen.
Ursula Gaisa
Diskografie
Nylon: Die Liebe kommt
Boutique/Universal 060249821155
Erich Kästner/Edmund Nick: Das Leben ohne Zeitverlust.
Chansons der Stunde Null; Susanne Brantl, Gesang, Gerold Huber
Klavier
Russki Records 08251
Jutta Czurda, Heinrich Hartl: Wenn ick mal tot bin…
Lieder über Liebe und Tod
Streetlife-Music 4002-01-04
SaltaCello: Rosenzeit
Finetone music FTM 8012
Tina Teubner Live: Glücksgalopp. Rettet die Maßlosigkeit!
Lieder, Kabarett, Unfug
[li:d] records 1-1103/Conträr
Nur nicht aus Liebe weinen. Die großen Damen des deutschen
Chansons
Reader’s Digest: Verlag Das Beste GmbH, Stuttgart (GDC 21
071835 79) G 01 040 GG
Conny Kollet: Schieß mich auf den Mond
Rodenstein Records ROD 12/jazz-network.com
Wenzel: Stirb mit mir ein Stück
Conträr Musik 3189-2
ParisFétiche/World Famous Rendez-Vous
Emarcy/Universal 981112 2