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nmz-archiv
nmz 2004/10 | Seite 1
53. Jahrgang | Oktober
Leitartikel
Vermisst gemeldet: das deutsche Bildungswesen
Oder: Was uns der OECD-Bericht alles nicht verrät ·
Von Rainer Dollase
Im OECD-Bericht „Bildung auf einen Blick“ (UNO Verlag
Bonn, 2004, ISBN 92-64-01820-4, 528 Seiten, 49 Euro) steht nichts
über Musik und Musikunterricht. In dem opulenten, bemüht
kommentierten Tabellenband erscheint in den Zahlenkolonnen ein kleines
„m“(„missing“), wenn es den nationalen Datensammlern
nicht gelang, eine Zahl nach Brüssel zu faxen. Dort hat man
nationale, also bekannte, Zahlen verrechnet und gewichtet und präsentiert
nunmehr den internationalen Vergleich.
Helle Aufregung – obwohl alle Ergebnisse bekannt sein müssten.
So steht im Bericht noch mal alles zu PISA und zu IGLU, über
deren Ergebnisse man sich hier folgenlos und beliebig aufregen durfte
(Achtung für alle Hysteriker: am 7. Dezember 2004 gibt es neue
PISA-Ergebnisse). Und das Bundesministerium für Bildung und
Forschung hat den Bericht gar ins Deutsche übersetzt –
da hätte die Frau Ministerin ja nun bestens vorbereitet in
die Pressekonferenz gehen können. Das war ja offensichtlich
nicht der Fall. Warum? Aus einem solchen Tabellenband kann man sich
die tollsten Theorien herauslesen, eine Integration der Befunde
gibt’s nicht, eine Kurzzusammenfassung ist immer tendenziell,
also kann man sich nicht passend vorbereiten.
„Bildung auf einen Blick“ enthält etwas über
die Stundentafeln in den OECD-Ländern: Sprach- und Mathe-Unterricht
ist führend (im Schnitt 24 beziehungsweise 16 Stunden in der
Primarstufe (P), 16 beziehungsweise 13 in der Sekundarstufe (S),
S. 393/394) – Musik taucht nicht auf, dafür „Kunst“
mit 12 Stunden (P bzw. 8 in S). Ein Hinweis auf www.oecd.org/edu/eag
2004 liefert im Anhang die Fächerklassifikation – und
eine Auflösung des Rätsels. „Arts“ steht da,
umfasst die Fächer „arts, music, visual arts, practical
art, performance music, photography, drawing, creative handicraft,
creative needle works“. Schade – „m“ wie
„music“ oder „missing“. Vielleicht hätten
wir ausgerechnet dort einen „unique selling point“,
ein in der Globalisierung so wichtiges „Alleinstellungsmerkmal“,
das es auszubauen gälte.
„Bildung auf einen Blick“ liefert wie TIMSS oder PISA
keinerlei Beweise für die Überlegenheit des Gesamtschulsystems
(gute wie schlechte Länder haben eins), keinerlei Beleg für
die Effektivität der Früheinschulung (Siegerland Finnland
schult mit sieben Jahren ein), keinerlei Hinweise auf die Faktoren,
die Unterricht wirkungs-voll machen (die PISA-Siegerländer
unterrichten lehrerzentriert). Dieses Missverständnis der akademischen
Stammtische hält sich als contrafaktische Ideologie wie die
Sprayerfarbe an den Hauswänden – schade, ein Defizit
empirischer Argumentationsfähigkeit. Auch der glorifizierende
Blick nach Skandinavien hält der Realität nicht stand:
die Leseleistungen schwedischer Schüler sind von 1991 auf 2001
zurückgegangen (S. 91), in allen skandinavischen Ländern
haben die Schüler weniger Unterricht als in Deutschland (S.
388). Aber: Schüler in Deutschland, Österreich und der
Schweiz haben ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zur Schule
und eine überdurchschnittlich hohe Unterrichtsbeteiligung (S.127/128
– auch wenn hier Text und Tabelle mal wieder nicht zusammenpassen).
„m“ wie „missing“ sind in allen Vergleichsuntersuchungen
von TIMSS bis PISA die zentralen Antworten auf die Frage nach der
Qualität von Bildung, da Einmalmessungen keine sicheren kausalen
Schlussfolgerungen zulassen. Hundert Schuldige kommen für ein
gutes oder schlechtes Ergebnis in Frage. War’s das System?
Die fähigen oder unfähigen Lehrer? Die begabten oder unbegabten
Schüler? Die Schüler, die kein Deutsch sprechen? Die Mittelwerte
– das ist seit den Tagen der Statistiker Cournot und Condorcet
bekannt, ergeben zusammengefügt kein zutreffendes Bild der
Gestalt: aus den Durchschnittsseiten von rechtwinkligen Dreiecken
lässt sich zwar ein Durchschnittsdreieck zeichnen, aber kein
rechtwinkliges. Wichtige strukturelle Merkmale gehen verloren. Mittelwerte
geben der einzelnen Schule keinerlei Anhaltspunkte – die Hälfte
der Schulen ist besser, die andere Hälfte schlechter. Der Generalverdacht
mangelnder Qualität trifft die Guten wie die Schlechten und
keiner weiß, wozu er gehört – ein kopfloses Herumexperimentieren
ist die Folge. Gutes wird über Bord geworfen, Schlechtes als
Wundermittel propagiert.
Vergleichsuntersuchungen haben einen sinnvollen Zweck: sie geben
Hinweise auf den Rang im internationalen Kontext. Ist dieser ungünstig,
so ist dieses ein deutliches Signal dafür, zu prüfen,
ob das Schulsystem, insbesondere der Unterricht, in seinen Kennzeichen
mit den Ergebnissen der internationalen empirischen Unterrichtsforschung
übereinstimmt. Forschung hat allein die Möglichkeit, bedingungskontrollierte
Studien mit eindeutigen kausalen Schlussfolgerungen durchzuführen.
Wir hätten, so die Bildungsministerin in einem Interview (FAZ,
15.7.2003), uns in den letzten dreißig Jahren den Luxus eines
Verzichts auf die empirische Bildungsforschung geleistet. Nicht
verzichtet – sondern aus ideologischen Gründen nicht
zur Kenntnis genommen. Weil sich Politik derjenigen als Berater/-innen
bedient hat, die davon keine Ahnung hatten.
Die ZEIT schrieb am 20. September 1974: „Die deutschen Schüler
auf dem letzten Platz. Im Internationalen Vergleich schneidet das
Bildungswesen der Bundesrepublik miserabel ab.“ Seither werden
immer weiter die falschen Schlussfolgerungen gezogen.