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nmz 2004/10 | Seite 7
53. Jahrgang | Oktober
Stüclwerk
Verschattete Erlösung für einen Antihelden
Robert Schumanns Manfred-Ouvertüre im Fadenkreuz konträrer
Ästhetiken · Von Peter Gülke
Wer war Manfred? Genau nachzufragen liegt nahe angesichts des
Namensgebers von zwei bedeutenden Kompositionen des 19. Jahrhunderts
– Robert Schumanns „Manfred“-Musik und Peter Tschaikowskys
„Manfred“-Sinfonie. Gerade aber, wenn die Nachfrage
auf genau definierte Identität und klare Konturen des Helden
ausgeht, wird sie ihn verfehlen.
Manfred werden in Byrons „dramatic poem“ so viele symbolische
Kontexte aufgebürdet, dass für den bei einer Bühnenhandlung
unerlässlichen Realismus wenig Platz bleibt, dass er dessen
aber auch kaum bedarf: Jedes romantisch-melancholische Gemüt,
jedes zerrissene Herz, jedes Bewusstsein irgendeiner untilgbaren
Schuld soll sich in ihm erkennen und an der „düsteren
Glut einer grenzenlosen reichen Verzweiflung“ (Goethe) wärmen
können. Manfred ist mehr Sprachrohr als Sprechender, mehr Kollektivwesen
als Individuum, ein mixtum compositum ganz und gar: Den Namen hat
er von einer Figur aus Horace Walpoles Schauerstory „The Castle
of Otranto“, Goethes Werther und seine egomane Selbstquälerei
haben an ihm teil und das Faszinosum des in „ewige Verdammnis“
stürzenden Engels, die suggestive Psychologie des Antihelden
und die stolze Verweigerung eines finalen Zu-Kreuze-Kriechens, romantisch
verbogener Titanismus sowie die ahasverische Verfluchung zu ewiger
Wanderschaft und zu einem, obwohl unbändig gewünschten,
bis ans Ende der Tage hinausgeschobenen Tode; im inzestuösen
Verhältnis zur eigenen Schwester Astarte, welche im Reiche
des Geisterfürsten Arimanes als todverheißendes Gespenst
beschworen wird, bringt Byron überdies eigene Biografie unter.
Überdosis Subjektivität
Derlei Vermischung, die letztgenannte zumal, stimuliert das auf
Verschlüsselungen ausgehende Interesse auf Kosten des ästhetischen
– das gilt für Byrons Werk und dessen Wirkung insgesamt;
er hat es gewusst und benutzt. Das Faszinosum der exzentrischen
Persönlichkeit und der kometenhaften Lebenskurve bestimmte
die Rezeption der Dichtung in einer Weise, welche vergessen machte,
wie sehr es sie überstrahlte und künstlerische Maßstäbe
außer Kraft setzte; so kann man von dramaturgischen und poetischen
Mängeln des „dramatischen Gedichts“ Manfred –
am ehesten mit Ausnahme lyrischer Passagen – angemessen nicht
sprechen, ohne jene Überdosis an ungefilterter Subjektivität
zu berücksichtigen, die immerfort sich eindrängt und mitredet.
Goethe, der Byron im Jahre 1819 „den einzigsten großen
Dichter jetziger Zeit“ nannte, ist der Kronzeuge; dass das
Publikum seine Rezension noch flüchtiger las als er diesen,
hat mitgeholfen, „Manfred“ missverständlich zum
„englischen Faust“ zu nobilitieren. Gewiss wurde Goethe
jene „düstere Glut einer grenzenlosen (…) Verzweiflung
am Ende lästig“, und er hat genau gesehen, dass „die
Lebens- und Dichtungsweise des Lords Byron (…) kaum gerechte
und billige Beurteilung (…) erlaubt“; andererseits blieb
ihm „der Verdruß (…) immer mit Bewunderung und
Hochachtung verknüpft“, sodass er eine Dichtung als „wunderbare,
mich nah berührende Erscheinung“ bezeichnen konnte, welche
ihm ohne Bezug auf den Urheber und, von einem gleichaltrigen Deutschen
geschrieben, gewiss als modische Koketterie mit weltflüchtig-verzichtenden
Stimmungslagen missfallen hätte.
Die der poetisch-dramaturgischen Durchgestaltung schwer zugängliche
Grauzone, in der biografische und ästhetische Erklärungsversuche
auf je verschiedene Weise steckenbleiben, ist sie nicht von vornherein
eher eine Domäne der Töne als der Worte? – spezieller
gefragt: Rufen nicht zum Beispiel jene Bremsungen eines dramatisch
dynamisierten Zeitverlaufs, welche Byron selbst an den Qualitäten
des Stückes zweifeln ließen (Belege unter anderem in
dem ausgezeichneten, mit etlichen der hier behandelten Fragen befassten
Aufsatz von Luisa Zanoncelli: „Von Byron zu Schumann oder
Die Metamorphose des ,Manfred’“. In: Robert Schumann,
Musik-Konzepte, Sonderband I, München 1981, S. 116–147)
nach der den handlungstreibenden Vorangang sistierenden, von ihm
abgehobenen Zeitlichkeit der Musik? Das betrifft nicht nur die lyrischen
Verweilpunkte, welche es leicht machten, „Musik“ als
„die höhere Potenz der Poesie“ – so formulierte
Schumann in den Tagebüchern (Band I, Leipzig 1971, S. 96) –
zu bewähren; das betrifft schon die szenischen Orte, von denen
her Tschaikowsky die vier Sätze seiner Sinfonie konzipieren
und ausladend dimensionieren konnte, Symbolorte viel mehr als handlungsbedingte
Durchgangsstationen: Mitternacht in gotischem Gemäuer, Hochgebirge
am Morgen, ländliches Anwesen in den Berner Alpen, Wasserfall,
der Thronsaal des Geisterfürsten Arimanes, Gebirgsgegend zur
Dämmerstunde mit Manfreds Burg im Hintergrund et cetera. Derlei
musste Musiker einladen schon vor allen ins Persönliche treffenden
Identifikationsangeboten.
Gattungen neu erzeugen
Dass einer wie Byron im „Manfred“ mit gattungsbezogenen
Bestimmungen haderte, musste Schumann sympathetisch entgegenkommen,
welcher gerade noch mit wenig genre-konformen Vorhaben wie „Das
Paradies und die Peri“ und „Genoveva“ beschäftigt
gewesen und überhaupt, wo immer möglich, der Prämisse
gefolgt war, Formen bzw. Gattungen jeweils aus dem Stoff und dessen
Erfordernissen neu zu erzeugen – nicht wenige seiner Werke
lassen sich als Plädoyers für Zwischengattungen verstehen.
Im Übrigen muss die besondere Zuständigkeit des Musikers
für jene Grauzone verlockt haben, die Aussicht, dem Stoff etwas
zuzubringen (nicht: hinzuzufügen, eher schon: zurückzuerstatten),
über das der auf’s Wort eingeschränkte Dichter nicht
verfügt, worauf er bestenfalls in den lyrischen Einlagen neidisch
hinausschaut.
Freilich kann Schumann die im Sprechdrama nur partiell erreichbare
Osmose bzw. wechselseitige Vertretung von ästhetischer Objektivität
und subjektiven Momenten nur innerhalb der Musik erproben, er muss
den in Worten nicht vollständig aufgehobenen Manfred ohne sie,
in der Musik aufsuchen. Dafür nimmt er eine – nicht wertend
zu verstehen – qualitative Differenz zwischen den dem Handlungsgang
botmäßigen Inzidenzmusiken und einer Ouvertüre in
Kauf, die auf ihre Weise bereits den ganzen Manfred enthält
und unter diesem semantischen Druck zu seiner dichtesten Partitur
und der als Konzept und in der Materialität der Mittel kühnsten
ihrer Zeit geworden ist.
Die Gattung bzw. Form möglichst voraussetzungslos aus dem
Stoff je neu zu erzeugen – das bedeutete vor allem, die Vermittlungen
zwischen beiden ständig offenzuhalten und je neu zu befragen,
einerseits die Gewähr des dialektischen Sonatenkonzepts nicht
auf’s Spiel zu setzen, andererseits jeder Vergegenständlichung
zu autonom agierenden Motiven, Themen oder Formabschnitten zu wehren,
mit anderen Worten: möglichst jedes Detail daran zu hindern,
entweder nur das eine – Struktur – oder das andere –„Programm“
– zu sein. Motive, Themen und Formabschnitte lassen sich bei
oberflächlichem Hören leicht erkennen, dem näheren
Hinblick indessen entziehen sie sich mindestens in jener Identität,
welche von der Form her bestimmt wird. Nach einer Introduktion und
hinführendem Accelerando steht das erste Thema („In leidenschaftlichem
Tempo“, Takt 26) zwar am richtigen Platz, Thema im Sinne einer
halbwegs autonomen, von einer weniger thematischen Umgebung abgehobenen
Gestalt jedoch ist es nicht, mehr Ansatz zu einer Formulierung als
selbst eine solche, zugleich Vehikel einer crescendierenden Entwicklung
und harmonisch weitab von der Konsolidierung einer Haupttonart –
und wenn, dann der „falschen“, es-Moll statt Es-Dur
(Notenbeispiel 1).
Notenbeispiel 1: Takt 26 ff.
Weil das zweite Taktpaar das erste wiederholt und die Musik, ehe
etwas – etwa im Sinne von Vorder- und Nachsatz – ausformuliert
ist, zu Fortspinnungen weitertreibt, reduziert sich der thematische
Kern auf die Synkopierung und den signalhaft punktierten Dreiklang
(das wiederholt sich beim zweiten Erscheinen). In einem von dieser
Musik geforderten weitergreifenden Verständnis thematisch erscheinen,
eher als die Prägung selbst, die Momente, die sie daran hindern,
sich vollständig auszuformulieren – die treibende Unrast,
das Fortstreben zu immer neuen Komplexionen.
Notenbeispiel 2: Takt 52 ff.
Nicht anders das zweite Thema (Notenbeispiel 2) – mehr ein
leidenschaftliches, in Sequenzierungen sich drehendes Singenwollen
als selbst Gesang, welches, fortwährend modulierend, einen
eigenen harmonischen Bezugspunkt nicht findet und dort, wo es zu
konsolidierenden Ballungen kommt – beide Male in zweimal zwei
Takten (62–65, 70–73) –, von diesen rasch wieder
fortgetrieben wo nicht fortgerissen wird (Notenbeispiele 3 und 4).
Notenbeispiel 3: Takt 62 ff.
Notenbeispiel 4: Takt 70 ff.
Dieses geschieht dreimal auch in der „Durchführung“
(Takte 132 ff., 154 ff., 170 ff.), wo seine kantable Dynamik endlich
ans Ziel gelangen, endlich sich erfüllen, endlich sich aussingen
kann. Nicht zuletzt die harmonisch weit auseinander liegenden Bereiche
cis/Cis, Gis, B und F, in denen das geschieht, machen die Durchführung
eher zu einem überschnell gedrehten Kaleidoskop bzw. unrastigem
Durcheilen von Extrempositionen als zu einem Arbeitsort im Sinne
der Sonatendialektik.
Programmatische Aufladung
Deren Reglements freilich geben hier wenig vor; insofern erscheint
nicht erstaunlich, dass das Programm sich vordrängt. Zuvor
(Takt 96) scheint in einer harmonisch besonders gewagten Passage
und mit einem unisono zerflatternden Motiv nicht nur die Exposition,
sondern die Musik überhaupt an ihr Ende gekommen – dem
in Arimanes’ Reich der geisterhaft beschworenen Astarte gegenüberstehenden
Manfred entsprechend, welcher um ein erlösendes Wort fleht.
Dieses erhält er auch, bei Byron gar knapper als bei Schumann:
als Todverkündigung (gäbe es nicht eine althergebrachte
Typologie von Ombra-Szenen, würde man das Gegeneinander von
stehenden Bläserklängen und raunenden Bässen im zweiten
Akt von Wagners „Walküre“, 4. Szene, als von hierher
kommend vermuten).
Den nachfolgenden Sturz ins inständig singende Appassionato
(„Mit großer Kraft“, Takt 132 ff., Notenbeispiel
5) und jenes überschnell gedrehte Kaleidoskop erlebt man nun,
nach der Todverkündigung, im Zeichen der „gestundeten
Zeit“, eines gerade noch gewährten Lebensüberschusses
und findet sich zu Beginn der Reprise bestärkt, wo Schumann
den Vortrag des ersten Themas, entgegen der sonatengemäß
stärkeren Konvergenz, drastisch schärft – die programmatische
Aufladung der Durchführung mag ihm die beim Reprisenbeginn
allemal drohende Tautologie besonders deutlich vor Augen gestellt
haben.
Am ehesten zollen der harmonische Ansatz im Tonartbereich B und
32 mit der Exposition verlaufsgleiche Takte jener Konvergenz Tribut
und prätendieren mehr Rückbezüglichkeit, als die
Situation der gestundeten Zeit gestattet. Zum einen freilich kann
Schumann darauf vertrauen, dass die Wiederholung nach der Todverkündigung
noch weniger als sonst in Musik wiederholen, eher nur noch erinnern
kann. Zum anderen liegt der um B zentrierte Komplex im Vorfeld des
„Schlusschorals“ und seines unabgelenkt durchgehaltenen
es-Moll, im gesamten Stück der einzigen längeren, von
modulatorischen Zwängen nicht behelligten, zugleich bewegungsmäßig
homogenen Passage. Das lässt sie und ihr es-Moll als von vornherein
anvisierten Fluchtpunkt bzw. als von vornherein supponierte, nicht
notierte Tonart erscheinen. Schumanns subtile Architektur hat schon
zu Beginn der Ouvertüre in diese Richtung gewiesen: Nach dem
dominantisch-plagal aufreißenden ersten Takt und zwei Trugschlüssen
(Takte 2 und 6) kommt es im Übergang vom siebenten zum achten
Takt zu der in der Einleitung einzigen, zudem durch Trompete und
Pauke unterstrichenen V-I-Kadenz; und diese ist mit dem erstmalig
erscheinenden Hauptthema verbunden und führt nach es-Moll.
Dass am Stückbeginn das Tempo nach nur einem Takt und einer
Fermate extrem umschlägt, bleibt auch dann noch ungewöhnlich,
wenn man hier einen zerrissenen Charakter exponiert und die Fermate
durch die Terzabgänge der Bässe überbrückt,
die kontrastierenden Komplexe mithin strukturell verklammert sieht
– um so mehr, als im zweiten Takt zum Abgang der chromatische
Aufgang a-b-ces hinzutritt und eine Grundbefindlichkeit dieser zähflüssigen,
chromatisch infizierten Musik anzeigt – keiner neutralen tabula
rasa, in die die Intention sich widerstandslos eintragen kann, eher
schon einer vorausgesetzten eigenwilligen Materialität, der
die motivisch-thematischen Prägungen mühsam abgerungen
werden müssen; nur bei diesen gewährt das schwergängige
Geschiebe diatonische Durchblicke.
Ästhetische Gratwanderung
Die Suggestivität dieser Musik im Sinne der von Goethe empfundenen
„düsteren Glut“ bzw. von Manfreds kategorischer
Lebens- und Weltverachtung lässt sich auf ihn zu direkt beziehen,
als dass man, wie immer das „Sonaten-Allegro“ aus ihr
hervorwächst, dieses im Vergleich nicht doch als den vor die
Figur geschobenen Filter einer stärker eigenbestimmten Musik
empfinden würde. Zur Osmose „absoluter“ und „programmatischer“
Maßgaben gehört auch, dass die Anteile schwanken, und
zur Glaubwürdigkeit der ästhetischen Gratwanderung gehört,
dass sie das reflektiert. Wenn die Einleitung die nur irgend erreichbare
Kongruenz von Gegenstand und Musik, mithin den für dieses Stück
verabredeten Realitätsgrund darstellt, dann muss die überhöhende
Sonate, wie immer Schumanns osmotische Bemühungen die Verselbständigung
zur Meta-Ebene zügeln, zu ihr zurück.
Dergestalt vereinen sich im „Hinlaufen zum Tode“ ästhetische
Zwänge und solche des Sujets. Als auf Synthese und Resultat
hinarbeitender Prozess kann die Sonate schon den es-Moll-Choral,
welcher unter anderem die Unmöglichkeit der Synthese attestiert,
nicht „wollen“; aber auch bei ihm darf es nicht bleiben:
Wenngleich verschattet, verspricht in ihm die Musik doch –
schon, weil nun sich aussingend – einen „Epilog im Himmel“,
i.e. Erlösung. Diese muss nicht unbedingt theologisch, sondern
nur als Erlösung in die Musik hinein verstanden werden, um
wie von außen herangebracht und vom Medium Musik verschuldet
zu erscheinen. Tschaikowsky veranstaltet an der entsprechenden Stelle
triumphierenden Orgelschwall in C-Dur („Grand jeu“)
und mag bei der nachfolgenden Rettung des Sujets gegen die Veranstaltung
auf den diskreteren Schumann geblickt haben. Dieser lässt den
Choral versinken, kehrt zum Realitätsgrund der Introduktion
zurück und kann dort auf eine Weise verlöschen, welche
auch die vage verhießene Erlösung im Nachhinein ohnmächtig
erscheinen lässt.
In der Manfred-Ouvertüre, neben ihr am deutlichsten in der
Rheinischen Sinfonie, erscheinen ein geschichtlicher Augenblick,
eine Chance komponiert, welche die Polarisierung „absoluter“
respektive „programmatischer“, „akademischer“
respektive „neudeutscher“ Orientierungen leicht übersehen
lässt – die Möglichkeit, dass die alsbald polemisch
auseinandergetriebenen Orientierungen, wie zuvor unter dem Dach
der „poetischen Idee“, näher beieinander geblieben
wären und, wie Schumann vorführt, einander zugearbeitet
hätten. Es gibt genug Gründe dafür, diese Möglichkeit
als Fiktion und das Schisma als historisch notwendig anzusehen.
Mit Blick insbesondere auf Schumanns Manfred-Ouvertüre lässt
sich ihnen die Einsicht anfügen, dass es exorbitanter Anstrengungen
und schwer durchzuhaltender Standards bedurfte, um im Fadenkreuz
zweier zunehmend konträrer Ästhetiken zu bestehen.