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nmz-archiv
nmz 2005/03 | Seite 46-47
54. Jahrgang | März
Oper & Konzert
Musik der Welt im Takt des Geldes
Stuttgarter Kongress „Globalisierung und die Freiheit der
Künste“
„Grenzenlos“ nennt der Stuttgarter Neue-Musik-Veranstalter
„Musik der Jahrhunderte“ das World New Music Festival,
das er 2006 im Auftrag der Gesellschaft für Neue Musik (GNM),
die deutsche Sektion der ISCM (International Society for Contemporary
Music) ausrichtet. Dass das Festival nach Stuttgart geholt werden
konnte, liegt nicht zuletzt an den besonders guten Bedingungen für
Neue Musik dort. Vor zwei Jahren bezog Musik der Jahrhunderte das
Theaterhaus Stuttgart und verfügt seither über vier Bühnen
und eine für Neue Musik überdurchschnittlich gute finanzielle
Ausstattung.
Gelungene Umwandlung: aus
der Rheinstahlhalle wurde das Theaterhaus Stuttgart. Foto:
Dietmar Strauss
Die starke Stellung der zeitgenössischen Musik in der Stadt
ist nicht nur „Musik der Jahrhunderte“ allein zu verdanken.
Seit Jahren sind die wichtigen Veranstalter Neuer Musik in Stuttgart
eng miteinander vernetzt – jüngstes Kind dieses in Jahrzehnten
gewachsenen Netzwerkes ist die Anfang März im Theaterhaus eröffnete
gemeinsame Konzertreihe „Die Reihe“ von Akademie Schloss
Solitude, Musik der Jahrhunderte, Staatsoper Stuttgart und SWR.
Christine Fischer, Geschäftsführerin von Musik der Jahrhunderte
und Generalmanagerin des Weltmusikfestivals, ist es auch beim Projekt
„Grenzenlos“ gelungen, dieses auf eine solide wirtschaftliche
Basis zu stellen. Es existiert eine Planung mit einem Gesamtbudget
von 2,5 Millionen Euro, etwa 60 Prozent davon sollen schon sicher
akquiriert sein.
Mit dem Ziel, eine breite Öffentlichkeit mit dem Diskurs
über Interkulturalität und über die Beziehungen von
Globalisierung und Kunst vertraut zu machen, hatte im Juli 2004
der erste von vier Kongressen das Festival „Grenzenlos“
vorbereitet. Nachdem erst einmal eine vorläufige Standortbestimmung
vorgenommen worden war – der „erklärte Feind von
Veranstaltungen wie den Weltmusiktagen heißt Eurozentrismus“,
so Jörn-Peter Hiekel in der Eröffnungsrede – galt
es nun, die ökonomischen und politischen Auswirkungen globalisierter
Märkte auszuloten und die Aufgaben zu formulieren, vor die
die Künste dadurch gestellt werden.
Mit fünf Tagen Dauer ist das Festival Neuer Musik „Eclat“
(siehe Bericht auf Seite 4 und 5) in Stuttgart zu einem Event
avanciert. Ideale Voraussetzungen für den zweiten Kongress
„Globalisierung und die Freiheit der Künste“, um
anzudocken und die Anwesenheit von Publikum, Künstlern und
Kameras für sein Anliegen zu nutzen.
Diese Chance wurde leider vertan. Weder das Publikum nahm den Kongress
wahr, noch die zahlreich anwesenden Musiker und Komponisten. Man
blieb in der Gegenwart: Die Proben und die aktuellen Uraufführungen
waren wichtiger als ein in gar nicht so ferner Zukunft liegendes
ISCM-Weltmusikfestival.
Den „Begriffen der Globalisierung“ war das Eröffnungsreferat
der Philosophin Heidrun Hesse gewidmet. Mit Termini wie Ortlosigkeit,
virtuelle Realität und telekommunikativer Partizipation versuchte
sie die Ursachen der Globalisierung zu beschreiben. Steht uns unumgänglicher
Fortschritt ins Haus, an dem wir versuchen sollten teilzuhaben,
oder bedroht uns die Globalisierung in unserer wirtschaftlichen
Existenz und kulturellen Identität?
Unter dem Titel „Im Takt des Geldes“ näherte
sich Eske Bockelmann den Zusammenhängen von globalem Markt
und Musik auf unorthodoxe Weise. Zu Beginn der Neuzeit habe sich
die Entwicklung des Weltgeldes von Italien aus analog zur Metronomisierung
der Musik entwickelt. Musik von Vivaldi, Bach und Telemann sei seither
klar in rhythmisch strukturierten Gruppen gegliedert. Auch wenn
Bockelmanns Thesen bei einigen Musikwissenschaftlern für Stirnrunzeln
sorgten, so boten sie doch Zündstoff für die Diskussion.
Leider wurde die für den Kongress relevante Epoche ausgespart:
nämlich die Moderne, die – abgesehen von Pop und Jazz
– nicht gerade von rhythmisch sehr klar gegliederter Musik
bestimmt ist. Bockelmann blieb sozusagen der ersten Globalisierung,
nämlich dem Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit
verhaftet. Was Markt und zeitgenössische Musik heute miteinander
zu schaffen haben, ließ er offen.
Kernstück des ISCM-Festivals ist wie jedes Jahr der Kompositionswettbewerb.
50 Länder schlagen je sechs Werke vor, eine Jury bestehend
aus Wolfgang Rihm (Vorsitz), Hans-Peter Jahn, Unsuk Chin, Pascal
Dusapin, Julio Estrada, Olga Neuwirth, Vladimir Tarnopolski und
George Benjamin wählt daraus jeweils ein Werk aus. Die Juryvorschläge
stehen dann Christine Fischer und ihrem Beraterteam zur Disposition,
die sie – auch mit weiteren Programmpunkten ins Gesamtkonzept
von „Grenzenlos“ einarbeiten.
Der Kongress „Globalisierung und die Freiheit der Künste“
soll nicht nur der Theoriebildung dienen, sondern durchaus auch
der Kriterienbildung für die Werkauswahl. Hilfreich in diesem
Zusammenhang waren mit Sicherheit die Thesen des Philosophen und
Japanologen Rolf Elberfeld. Seine Idee von der „Pluralität
der Modernen“ eröffnete einen neuen Blick nicht nur auf
die zeitgenössische Kunst und Literatur, sondern insbesondere
auch auf die Musik von heute. Anhand verschiedener Beispiele der
Akkulturation in Japan oder Indien, zeigte Elberfeld auf, wie sich
weltweit verschiedene Wege der Künste ergeben. Das Resultat:
eine neue Freiheit der Künste im Zeitalter der Globalisierung.
Mit Elberfelds Moderne-Begriff stieß man vor ins Zentrum
ästhetischer Diskussion, an der sich auch Kongressteilnehmer
wie Claus-Steffen Mahnkopf, Max Nyffeler, Nicolas Schalz –
alle zur so genannten Festival-Vorbereitungsgruppe der GNM gehörend
– engagiert beteiligten.
Der senegalesische Politologe Ousmane Kane und die portugiesische
Psychologin Grada Kilomba Ferreira führten wieder auf gesellschaftspolitisches
Terrain zurück. Kane, derzeit Associate Professor of International
and Public Affairs an der Columbia University in New York, widerlegte
mit seinen Studien, dass etwa der Mystizismus islamischer Sufi-Orden
durch Prozesse der Modernisierung verschwunden wäre. Im Gegenteil
verstärkten Prozesse der Globalisierung eine Renaissance der
Sufi-Orden.
Grada Kilomba Ferreira beschäftigte sich mit den Folgen der
Jahrhunderte langen afrikanischen Diaspora. Globalisierung bedeute
auch Traumatisierung: „Das N-Wort (nicht nur negroe, sondern
auch Neger) ist nicht neutral, sondern steht für eine Erfahrung
kollektiver Unterdrückung.“
Tag drei galt der Politik. Der aus Teheran stammende Soziologe
Mohssen Massarrat stellte die Frage „Warum hat sich die Demokratie
im Mittleren und Nahen Osten nicht, wie in Europa, von innen heraus
durchgesetzt?“ Am Beispiel Irak beschäftigte Massarrat
sich mit dem „Kriegsziel Demokratie“, das das eigentliche
„Kriegsziel Öl“ verbrämt, und lieferte eine
klare Analyse der Interessenkonflikte im so genannten „Greater
Middle East“.
Die iranische Friedensnobelpreisträgerin und Juristin Shirin
Ebadi war nicht selbst gekommen, sondern hatte einen Text gesandt,
den ihre Mitarbeiterin Sara Akbari vorlas. Eine poetische Metapher
über das Verhältnis von Kunst und Politik. Wie widerständig,
wie beharrlich muss Kunst sein und unter welchen Bedingungen (politischen
wie materiellen) entsteht sie im Idealfall: Das waren die Kernpunkte
der anschließenden Diskussion. Natürlich stand auch die
Rolle der Frau im Iran zur Debatte und Sara Akbari verwies auf die
sehr spezifische gegenseitige Beeinflussung von altpersischer Religion
(der Lehre von Zarathustra) und dem Islam. Aus dieser gegenseitigen
kulturellen Beeinflussung – auch im Iran existieren also „Götter
im Exil“ –, resultiert die im Vergleich zu anderen islamischen
Ländern starke Position der Frau in der iranischen Gesellschaft.
Dem Soziologen Moshe Zuckermann (Universität Tel Aviv) war
es vorbehalten, den Kongress zu beenden. Sein Thema: die Doppelbödigkeit
der Globalisierung im Zusammenhang mit Kunst. Sie wirke sich zum
einen segensreich auf die allgemeine Zugänglichkeit aus, zum
anderen schafft sie Vereinheitlichung und Standardisierung und ist
verantwortlich für ihren Warencharakter.
Der dritte Kongress zum Thema „Globalisierung und die Freiheit
der Künste“ wird im März 2006 in Stuttgart stattfinden.