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nmz-archiv
nmz 2005/03 | Seite 1-2
54. Jahrgang | März
Leitartikel
Inte-Kratzion?
Schon gehört? Hessens Ministerpräsident Roland Koch
fordert die sofortige Internierung aller Mitglieder der dänischen
Minderheit in Schleswig-Holstein. Und beim nächsten Bundeswettbewerb
„Jugend musiziert” erhalten die türkischen Teilnehmer
an der Baglama-Wertung automatisch 25 Punkte. Nun ja, beide Meldungen
sind etwas übertrieben. Aber sie flankieren gewissermaßen
ein deutsches Problemfeld: Wie gehen wir mit anderen, mit fremden
Kulturen um?
Die – gerade in Künstlerkreisen – anfangs heftige
Zustimmung zur Erweiterung der Europäischen Union ist längst
in Ernüchterung, teils in Angst oder gar Fremdenfeindlichkeit
umgeschlagen. Beispiel Sinfonie-Orchester: Außerordentlich
kostengünstige und dabei bestens ausgebildete „Konkurrenz“
aus den Beitrittsländern stellt gewachsene deutsche Tarifstrukturen
im Orchesterbereich in Frage, schüttelt eine traditionsreiche
Kulturlandschaft durcheinander, möglicherweise bis zur Existenzgefährdung.
Schon ist von Prostitution, von Menschenhandel, die Rede. Aber dürfen
wir – sozusagen zur Besitzstandswahrung – ausländischen
Künstlern, die eben aus einem ganz anderen sozialen und kulturellen
Umfeld kommen, die unter anderen, uns vielleicht völlig unverständlichen
Konditionen gern und gut arbeiten, ihre EU-vertraglich zugesicherte
Mobilität in der Berufsausübung tatsächlich verwehren?
Welche Haltung nehmen wir Deutsche in dieser Frage ein? Wir sind
doch im Grunde unsres Herzens keine Chauvies!
Kleiner Sprung: Haben Sie über die Taiwanesen-Witze, die
an bundesrepublikanischen Musikhochschulen reichlich kursieren –
vielleicht hinter vorgehaltener Hand – auch so herzlich gelacht?
Ist nicht andererseits gerade die amerikanische Kultur – wenn
man das, was da abgeht, überhaupt so nennen will – bis
auf ganz wenige Ausnahmen völlig dekadent und derangiert? Eine
Ansammlung moralischer Verkommenheit, deren Inkarnation sich in
der Person von George W. Bush präzise wiederfindet? Allenfalls
ein ganz klein bisschen Recht hatte dieser texanische Cowboy bei
der Behandlung jener ohnedies reichlich kulturfeindlichen Mullahs.
Vor denen muss man sich schützen. Die Chinesen hingegen sind
ganz anders: Ein Volk auf dem Sprung in die Freiheit – mit
viel Liebe, Interesse und Verständnis gerade auch für
unsere abendländische Musik. Ein bisschen ähnlich den
Japanern, bloß unverbrauchter. Und den Gipfel an Spontaneität
in Verbindung mit ursprünglicher Musikalität erleben wir
doch regelmäßig bei den farbenfrohen Tanz- und Trommel-Veranstaltungen
unserer afrikanischen Brüder und Schwestern. Während uns
der andächtige Gesang buddhistischer Mönche stark an unsere
eigenen kultischen gregorianischen Wurzeln erinnert…
Wir urteilen gern schnell und deutlich. Eine andere, behutsame
und geduldige Form der Annäherung an eine fremde Kultur, die
je näher sie rückt umso fremder scheint, betreibt der
Deutsche Musikrat unter der Leitung von Hannelore Thiemer mit seinem
Begegnungsprogramm im Rahmen des Warschauer Herbstes seit fünf
Jahren auf bewusst unspektakuläre Weise. Die Ergebnisse können
sich sehen und hören lassen: Was die polnisch-deutsche Ensemblewerkstatt
für Neue Musik und ihre Begleitveranstaltungen auszeichnet,
ist das Wachsen eines vielschichtigen Kommunikationsfeldes. Es reicht
von der Alltags-Begegnung über das gemeinsame Musizieren bis
hin zur Klärung kultureller und politischer Differenzen –
und Gemeinsamkeiten. Auf solche und viel eigene Erfahrung kann der
Deutsch-Französische Kulturrat bauen, wenn er dieses Jahr im
Vorfeld des Warschauer Musikfestes seine Konferenz über künstlerische
Existenz in den neuen EU-Beitrittsländern und mögliche
Quer-Wirkungen für die „Stamm-Staaten“ Deutschland
und Frankreich veranstaltet. Die gewonnenen Erkenntnisse wird wiederum
der Deutsche Musikrat, wahrscheinlich noch in diesem Jahr, bei einem
Kongress unter dem Arbeitstitel „Kulturelle Identität
– Interkultureller Dialog“ vertiefen können. Das
ist die gute Nachricht dieses Monats. Langweilig?