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nmz-archiv
nmz 2005/03 | Seite 1
54. Jahrgang | März
Leitartikel
Europas Rasenmäher für die Kulturlandschaft
Die Verabschiedung der EU-Dienstleistungsrichtlinie droht ·
Von Barbara Haack
Es gibt gesellschaftliche Themen, die brechen wie ein Paukenschlag
über uns herein; von heute auf morgen sind sie in aller Munde
wie der schlampige Umgang mit Visa-Erlassen oder die Nebenverdienste
unserer Volksvertreter. Andere Fragestellungen – von häufig
viel weit reichenderer Bedeutung – schleichen sich erst langsam
in die Medien und noch langsamer ins Bewusstsein einer breiteren
Bevölkerung. Dabei bleibt ihr kultureller oder gar musikalischer
Bezug in tiefstem Dunkel. Die so genannte EU-Dienstleistungsrichtlinie,
präsentiert von der Europäischen Kommission, ist solch
ein Thema.
Erst nach und nach findet sie Eingang in die Berichterstattung
von Tageszeitungen oder Funk und Fernsehen. Die Kulturschaffenden
in der Breite scheint sie noch immer nicht erreicht zu haben. Kein
Wunder: Welcher künstlerisch Kreative hat schon Lust, sich
mit einem derart bürokratisch anmutenden Wort-Ungetüm
oder gar mit weiteren abschreckenden Begriffen wie „Daseinsvorsorge“
oder „Grundversorgung“ zu beschäftigen? Die jetzt
von Politikern und Fachverbänden – auch den kulturellen
– geführte Diskussion zu ignorieren wäre allerdings
gerade für Musiker falsch. Denn sollte sich eine solche Richtlinie
durchsetzen, würde dies grundlegende strukturelle Veränderungen
für das deutsche Kulturleben bedeuten.
Worum geht es genau? Olaf Zimmermann, Geschäftsführer
des Deutschen Kulturrates, erläutert die Eckpunkte der Richtlinie
auf Seite 34 dieser Ausgabe.
Der europäische Binnenmarkt soll nicht nur im Bereich des Warenverkehrs,
sondern auch des Dienstleistungssektors liberalisiert werden –
ausnahmslos. Ziel ist es, Europa bis 2010 zum „wettbewerbsfähigsten
und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“
zu machen. Das leuchtet ein: Gehörten wirtschaftliche Prosperität
und freie Wege nicht zu den zentralen Themen aller europäischen
Einigungsprozesse, die seit den 50er-Jahren eingeleitet wurden?
Für die Kultur aber, so scheint es, birgt diese Entwicklung
große Gefahren. Konkret festmachen lässt sich dies am
„Herkunftslandprinzip“ – ein weiteres abschreckendes
Wortgebilde, hinter dem sich eine zentrale Forderung dieser Richtlinie
verbirgt. Danach unterliegt der Dienstleister ausschließlich
den Rechtsvorschriften des Landes, in dem er „niedergelassen“
ist: Tschechisches Baurecht soll für tschechische Firmen in
Deutschland ebenso gelten wie spanische Fliesenleger-Vorschriften
für spanische Fliesenleger. Tarifstandards zum Beispiel von
Orchestermusikern oder Chorsängern betrifft das ebenso wie
die Ausschüttungsprinzipien der Verwertungsgesellschaften.
Die freilich setzen sich gegen eine Aufhebung des „Territorialprinzips“
heftig zur Wehr. Der Traum von einem flexiblen – jedenfalls
unübersichtlichen – Regelwerk, das dann eben nicht mehr
für alle in einem Mitgliedsstaat Tätigen gleich wäre,
ist klar formuliert – und daher angreifbar. Zu Recht monieren
Fachverbände wie der Deutsche Kulturrat, aber auch die Europäische
Allianz der Medien- und Kulturschaffenden (EAEA), dass hier Standards
nach unten nivelliert werden sollen, die nicht nur die soziale Lage
der Künstler, sondern auch Qualitäts-Maßstäbe
betreffen.
Was bedeutet diese „Liberalisierung“ darüber
hinaus für den Kulturbereich? Befördert sie etwa einen
allseits ersehnten internationalen Kulturaustausch? Erlaubt sie
eine Intensivierung künstlerischen Dialoges über Grenzen
hinweg? Mahnt sie vielleicht einen Zustand an, den Künstler
und Kulturschaffende längst als Status quo kennen? Oder bedeutet
sie konkret, dass der Kompositionsauftrag eines Stadttheaters nun
europaweit ausgeschrieben werden muss und dann dem Komponisten erteilt
wird, der die niedrigsten Honorarforderungen stellt? Wird demnächst
die „Figaro“-Inszenierung aus Belgien gekauft, die „billiger“
ist als die der eigenen Bühne? Oder bedeutet es, dass eine
Kommune künftig gar kein Theater, keine Musikschule mehr fördern
darf, wenn es am gleichen Ort auch eine private Einrichtung dieser
Art gibt?
Dem Ganzen liegt doch ein Denkfehler zugrunde. Eine Richtlinie
für „Dienstleistungen“, die Dienstleistungen als
„selbständige wirtschaftliche Tätigkeiten“
definiert, bei denen „einer Leistung eine wirtschaftliche
Leistung gegenübersteht“, soll hier einer gesellschaftlichen
Leistung übergestülpt werden, die in weiten Bereichen
so gerade nicht funktioniert. Quantitative Maßstäbe können
für Kultur und Bildung nicht allein das Eichmaß sein.
Noch akzeptieren viele, dass ein Kunstwerk nicht allein Ware ist,
deren Wert sich am Ertrag bemessen lässt, sondern ein Lebensmittel.
Deshalb ist der Kreative viel mehr Dienst-Leister im eigentlichen
Wortsinn als ein Unternehmensberater oder Versicherungsmakler. So
fordert die ehemalige Europa-Abgeordnete Karin Junker (SPD) zu Recht,
„die Bereiche Kunst, Kultur und Medien völlig aus dem
Anwendungsbereich der Richtlinie auszuklammern“ (politik und
kultur 2/05).
Nachdenklich stimmt, dass die Diskussion überhaupt in dieser
Form geführt wird. Zwar haben auch deutsche Politiker inzwischen
Pferdefüße der Richtlinie erkannt. Die Vorbehalte jedoch
konzentrieren sich auf die Gefahr eines möglicherweise zu erwartenden
„Lohn- und Sozialdumpings“, allenfalls erweitert auf
Fragen der Bildung und der Sozialwirtschaft. Kunst und Kultur spielen
dabei keine Rolle. Zeichen dafür, dass es – wie Junkers
schreibt – „an lauten Stimmen für die Kultur fehlt“.
Zeichen aber auch dafür, dass Bundes- und Europa-Abgeordnete
die grundlegende Bedeutung von Kunst und Kultur nicht (mehr?) wahrnehmen.
Fehlt es ihnen womöglich an kultureller Bildung? Ein Grund
mehr, Kultur nicht zur Ware herunter zu definieren.