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Ausgabe 2005/06
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nmz 2005/06 | Seite 34
54. Jahrgang | Juni
ver.die
Fachgruppe Musik

Vom Schwinden öffentlicher Kultur

Musikschule: Dienstleistungsbetrieb oder Kulturauftrag öffentlichen Rechts, Teil II

Vom Wertewandel im Musikschulbereich handelt der vorliegende Artikel von Friedrich Kullmann. Teil I aus der neuen musikzeitung Mai 2005 (Seite 34) findet hier seinen zweiten und abschließenden Teil.

Bis Mai 2005 müssen die WTO-Mitglieder mitteilen, wie sie ihre Märkte für externe Dienstleistungen öffnen wollen. Im Dezember 2005 findet die nächste WTO- Ministerrunde in Hongkong statt. Bislang hat die EU-Kommission, die für die EU-Mitgliedsstaaten das Verhandlungsmandat hat, keine Liberalisierungsangebote im Kultur- und Medienbereich unterbreitet. Mit der DLR aber wird die Position der EU-Kommission zu den GATS-Verhandlungen in Hongkong unterlaufen, sie schafft vollendete Tatsachen.

Myriam Quiel: „Wohnzimmerkrieg 3“: Das Bild (Öl auf Leinen) der in Berlin lebenden Malerin misst 200 mal 480 Zentimeter und ist ein Triptychon. Die 1974 geborene Malerin hat in Dresden studiert und fasst ihre gesellschaftlichen Beobachtungen oft in skurrile Sittenbilder. Aus: kunst und kultur Nr. 4 Mai 2005, Seite 8

Myriam Quiel: „Wohnzimmerkrieg 3“: Das Bild (Öl auf Leinen) der in Berlin lebenden Malerin misst 200 mal 480 Zentimeter und ist ein Triptychon. Die 1974 geborene Malerin hat in Dresden studiert und fasst ihre gesellschaftlichen Beobachtungen oft in skurrile Sittenbilder. Aus: kunst und kultur Nr. 4 Mai 2005, Seite 8

Andererseits erodieren Kunst und Kultur zunehmend von innen heraus, angesichts einer immer weiter um sich greifenden warenförmigen Strukturierung der Wünsche und Bedürfnisse der Menschen. Das Ohr, an die technologisch aufgeblasenen, eindimensionalen Nichtigkeiten der Massenkultur gewöhnt, bekommt immer weniger Zugang zur „ungeschminkten“, komplexen, realen Musik erwachsener Menschen. Die ungeheure Ansammlung von Waren erzeugt zudem eine immense Entwertung des einzelnen „Kulturprodukts“.

Erziehung der Sinne

Dabei müsste jedem, der halbwegs bei Sinnen ist, die Bedeutung kultureller Bildung (und der Erziehung der Sinne) als Voraussetzung jeder Kultur einleuchten. Unübersehbar sind die Prozesse der Entfremdung menschlicher Kultur und der Enteignung menschlicher Sinne fortgeschritten.

In seinem Positionspapier „Kultur als Daseinsvorsorge!“ geht der Deutsche Kulturrat von einem Doppelcharakter der „kulturellen Dienstleistungen“ aus: Einerseits seien sie Wirtschaftsgüter, andererseits auch Güter von großer gesellschaftlicher Bedeutung. Der Kulturrat befürchtet den Verlust des kulturellen Erbes und damit auch des historischen Gedächtnisses bei einer einseitigen Favorisierung des Mainstreams. Damit schwinde auch die Fähigkeit zur künstlerischen Innovation.

Mehr noch: In den Strukturen der Kultur wird Können, Wissen, die Haltung jedes einzelnen Künstlers, der versucht, innerhalb seiner Praxis die kognitiven und emotionalen Erfahrungen einer widersprüchlichen gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit mit künstlerischen Mitteln zu bewältigen, bewahrt – als allgemeine gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten. Kunst verweist auf eine Intensivierung des Lebensgenusses, auf Visionen und Utopien sowie Möglichkeiten, einen als unvollkommen erlebten Zustand der Welt aufzuheben. Sie verweist auf widersprüchliche Haltungen – zwischen Anpassung, Irrationalismus, Mystizismus oder Widerstand und Emanzipation, den Idealen der Aufklärung verpflichtet. Kulturelle Enteignungsprozesse machen die Menschen „sprachlos“ (im weiteren Sinn). Sie verlieren die historisch erworbenen, komplexen Mittel der Kunst und der Wege zu ihr: Was lässt sich über den Gegenstand der Kunst – nämlich die Welt – dann noch aussagen? An ihre Stelle tritt effekthaschende Buntheit und postmoderne Beliebigkeit. Schlimmstenfalls wird die „Vision“ des ehemaligen amerikanischen Präsidentenberaters Brzezinski wahr, der 1995 von einer „20 zu 80 Gesellschaft“ sprach, wonach 20 Prozent mehr oder weniger gut Verdienende, die ausreichen, um Produktion und Absatz zu gewährleisten, 80 Prozent Arbeitslosen gegenüberstehen, die mit „tittytainment“ unterhalten werden sollen, einer Mischung aus Almosen und primitiver Massenunterhaltung. Brzezinski folgend würden Kunst und Kultur überwiegend dazu dienen, die Leute bei Laune zu halten.

Es ist nicht zu erkennen, dass die kommunalen Finanzen in absehbarer Zeit saniert werden sollten. Das GATS-Abkommen und die DLR aber werden kommen. Ob es gelingt, dort längerfristig wirksame Ausnahmeregelungen für Kunst und Kultur zu installieren, ist fraglich. Kann die Lobby der Kulturverbände zusammen mit den Gewerkschaften den nötigen Druck entwickeln gegen die geballte Macht der Wirtschaftsinteressen? Vielleicht lassen sich Entwicklungen aufhalten. Eines ist klar, ohne die Bereitschaft zum Konflikt und ohne die Orientierung auf breite Bevölkerungsschichten wird nichts zu gewinnen sein. Und ohne eine dauerhafte Sanierung der kommunalen Finanzen ist keine akzeptable Kulturpolitik möglich, werden auch Musikschulen geschlossen. Die Forderungen müssen lauten:

– Reform der Gemeindefinanzen.
– Einstellung der Zinszahlungen an die Banken, die die öffentliche Finanzmisere mit herbeigeführt haben und kräftig davon profitieren.

  • Kürzung des Rüstungshaushalts.
  • Öffentliche Investitionsprogramme auch für Bildung und Kultur.
  • Ein Solidarpakt zwischen Arm und Reich. Diese Republik ist nicht plötzlich verarmt, sondern man schätzt ein zu vererbendes Vermögen von nahezu zwölf Billionen Euro.
  • Wiedereinführung der Vermögenssteuer und eine
  • Heraufsetzung der Erbschaftssteuer.

Der Deutsche Kulturrat ist der Auffassung, dass sich „kulturelle Daseinsfürsorge nicht darin erschöpfen darf, ein Angebot bereitzuhalten. Es kommt auch darauf an, die Bevölkerung mit diesem Angebot zu erreichen“. Dazu brauchen wir als Musiklehrer die Gewerkschaften, lokale Bündnisse, (zum Beispiel Attac, Sozialforen), in der Musiker wirksam die Bedeutung von Kultur demonstrieren können. Und wir müssen die Musikschulleitungen stärker dazu bewegen, ihren in den „Leitbildern“ (Bergisch-Gladbach) formulierten Anspruch ernst zu nehmen, Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Angehörige aller Kulturkreise, Nationalitäten, Generationen und Bevölkerungsschichten erreichen zu wollen.

Es gibt einen aus der sozialstaatlichen Verfasstheit dieses Landes her ableitbaren Bildungsauftrag der öffentlich-rechtlichen Musikschulen. Der wird in Sonntagsreden von den Politikern beschworen, niemand hat sich aber bisher durchringen können, ihn als Pflichtaufgabe zu übernehmen. Das Staatsziel Kultur muss in das Grundgesetz und in alle Landesverfassungen aufgenommen werden. Nach Auffassung des Deutschen Kulturrats ist Kultur ein elementarer Bestandteil öffentlicher Daseinsfürsorge, das heißt ein kontinuierliches, flächendeckendes Kulturangebot in verschiedenen künstlerischen Sparten zu erschwinglichen Preisen mit niedrigen Zugangsschwellen.

Musik als das Wesentliche

Auch die Bildung in den allgemein bildenden Schulen wird sich den Liberalisierungs- und Deregulierungsabsichten nicht entziehen können. Da in der allgemein bildenden Schule der Musikunterricht immer weiter zurückgedrängt wird, Musiklehrer fehlen, kaum noch musiziert wird und bei der Ausrichtung künftigen „Humankapitals“ musische Bildung entbehrlich erscheint, bleibt die Musikschule de facto der öffentliche Raum, in dem alle Menschen sinnlich-praktische Erfahrungen mit Musik erwerben können.

Um hier nicht die kurzschlüssig-funktionalistischen Argumente um PISA und die Intelligenz fördernde Bedeutung der Musik zu wiederholen (Musikunterricht führe unmittelbar zu besseren Schulleistungen), sei aus einem Text von Klaus Holzkamp „Musikalische Lebenspraxis und schulisches Musiklernen“ zitiert: In „vorfindlicher Musik“ seien stets „auf irgendeine Weise Möglichkeiten zur Bewältigung, Gestaltung, Steigerung subjektiver Befindlichkeit historisch kumuliert. Im Vollzug, der musikalischen Bewegung hebt sich in meinem Befinden das Wesentliche, Überdauernde, Typische gegenüber den bloßen Zufälligkeiten und Zerstreutheiten meines Befindens heraus. In der Realisierung gesellschaftlich kumulierter emotionaler Erfahrungen sind, obwohl hier meine eigene Befindlichkeit ‚bewegt‘ und strukturiert ist, dennoch die Grenzen meiner ‚bloß‘ individuellen Erfahrungen überschritten.

Meine eigene Befindlichkeit tritt mir in der Musik in überhöhter, verallgemeinerter, verdichteter Form entgegen, ohne dass dabei die sinnlich-körperliche Unmittelbarkeit meiner Betroffenheit reduziert wäre. So mag sich, je nach der Art der realisierten musikalischen Bewegungsstruktur, mein emotionales Engagement von ,zufälligen‘ Ängstlichkeiten und Bedenklichkeiten befreit – intensivieren, radikalisieren und bis zur Ekstase steigern. Ich mag aber über die Musik auch eine neue Distanz zu meinen aktuellen emotionalen Lebensäußerungen gewinnen, wobei diese Distanz wiederum nicht nur ‚kognitiver‘ Art ist, sondern ihre eigene unverwechselbare Erfahrungsqualität gewinnt: Als ‚innere Ruhe‘, Übersicht, Gelassenheit, bis hin zur kontemplativen Versunkenheit als Gegenpol zu musikalischer Ekstase. In jedem Falle aber gewinne ich über die Musik eine neue Freiheit gegenüber den Anfechtungen und Wirrnissen des Naheliegenden. Indem ich durch meine Ergriffenheit von Musik, die mir keiner wegnehmen oder ausreden kann, mich selbst, meine Lebendigkeit, meine widerständige Präsenz in dieser Welt, quasi in reiner und gesteigerter Form erfahre, bin ich – mindestens vorübergehend – weniger bestechlich und nicht mehr so leicht einzuschüchtern“.

In Zusammenhang mit PISA und der Musik wird immer wieder die Entwicklung sozialer Kompetenz erwähnt, die unmittelbar durch die musikalische Betätigung erwachse. Welche sozialen Kompetenzen sind eigentlich damit gemeint im Zeitalter der propagierten Ellenbogen, des Individualismus und der sozialdarwinistischen Auffassung vom „Survival of the fittest“? Durchsetzungsfähigkeit auf Kosten anderer? Die Kompetenz, andere ungestraft und folgenlos übers Ohr zu hauen? Oder die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, und mit anderen zusammen den gesellschaftlichen Missstand zu verändern?

Aufgabe einer Musikschule ist selbstverständlich die Begabtenfindung und -förderung sowie die Bereitstellung der Möglichkeiten, die eine Qualifikation für Studium und Beruf vermitteln. Begabungsunterschiede sind offenkundig. Es ist meiner Meinung nach aber wichtig, nicht bei
dieser Augenscheinlichkeit stehen zu bleiben, sondern der „Begabung“ nicht eine quasi „natürliche“ Dimension zu unterstellen.

Viel eher verweisen Begabungsunterschiede auf individuelle Behinderungen bei der Aneignung des „kulturellen Erbes“, auf die vernachlässigte oder verhinderte Entwicklung musikalischer Sinne. Ein „Musik-Gen“ nämlich wurde bislang noch nicht entdeckt, so dass ihre biologische Potenz wohl allen menschlichen Wesen die Ausbildung musikalischer Fähigkeiten gestattet. Von Otto Schily stammt der Satz: „Wer Musikschulen schließt, gefährdet die innere Sicherheit.“ Wenn Musikschulen geschlossen werden, dann sollten wir alle lautstark und kreativ die „innere Sicherheit“ derjenigen gefährden, die glauben, uns ohne nennenswerten Widerspruch, in einer noch immer reichen und reicher werdenden Republik, einreden zu können, für öffentliche Kultur sei kein Geld mehr da.

Friedrich Kullmann

 

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