Bis Mai 2005 müssen die WTO-Mitglieder mitteilen, wie sie
ihre Märkte für externe Dienstleistungen öffnen wollen.
Im Dezember 2005 findet die nächste WTO- Ministerrunde in Hongkong
statt. Bislang hat die EU-Kommission, die für die EU-Mitgliedsstaaten
das Verhandlungsmandat hat, keine Liberalisierungsangebote im Kultur-
und Medienbereich unterbreitet. Mit der DLR aber wird die Position
der EU-Kommission zu den GATS-Verhandlungen in Hongkong unterlaufen,
sie schafft vollendete Tatsachen.
Myriam Quiel: „Wohnzimmerkrieg
3“: Das Bild (Öl auf Leinen) der in Berlin lebenden
Malerin misst 200 mal 480 Zentimeter und ist ein Triptychon.
Die 1974 geborene Malerin hat in Dresden studiert und fasst
ihre gesellschaftlichen Beobachtungen oft in skurrile Sittenbilder.
Aus: kunst und kultur Nr. 4 Mai 2005, Seite 8
Andererseits erodieren Kunst und Kultur zunehmend von innen heraus,
angesichts einer immer weiter um sich greifenden warenförmigen
Strukturierung der Wünsche und Bedürfnisse der Menschen.
Das Ohr, an die technologisch aufgeblasenen, eindimensionalen Nichtigkeiten
der Massenkultur gewöhnt, bekommt immer weniger Zugang zur
„ungeschminkten“, komplexen, realen Musik erwachsener
Menschen. Die ungeheure Ansammlung von Waren erzeugt zudem eine
immense Entwertung des einzelnen „Kulturprodukts“.
Erziehung der Sinne
Dabei müsste jedem, der halbwegs bei Sinnen ist, die Bedeutung
kultureller Bildung (und der Erziehung der Sinne) als Voraussetzung
jeder Kultur einleuchten. Unübersehbar sind die Prozesse der
Entfremdung menschlicher Kultur und der Enteignung menschlicher
Sinne fortgeschritten.
In seinem Positionspapier „Kultur als Daseinsvorsorge!“
geht der Deutsche Kulturrat von einem Doppelcharakter der „kulturellen
Dienstleistungen“ aus: Einerseits seien sie Wirtschaftsgüter,
andererseits auch Güter von großer gesellschaftlicher
Bedeutung. Der Kulturrat befürchtet den Verlust des kulturellen
Erbes und damit auch des historischen Gedächtnisses bei einer
einseitigen Favorisierung des Mainstreams. Damit schwinde auch die
Fähigkeit zur künstlerischen Innovation.
Mehr noch: In den Strukturen der Kultur wird Können, Wissen,
die Haltung jedes einzelnen Künstlers, der versucht, innerhalb
seiner Praxis die kognitiven und emotionalen Erfahrungen einer widersprüchlichen
gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit mit künstlerischen Mitteln
zu bewältigen, bewahrt – als allgemeine gesellschaftliche
Handlungsmöglichkeiten. Kunst verweist auf eine Intensivierung
des Lebensgenusses, auf Visionen und Utopien sowie Möglichkeiten,
einen als unvollkommen erlebten Zustand der Welt aufzuheben. Sie
verweist auf widersprüchliche Haltungen – zwischen Anpassung,
Irrationalismus, Mystizismus oder Widerstand und Emanzipation, den
Idealen der Aufklärung verpflichtet. Kulturelle Enteignungsprozesse
machen die Menschen „sprachlos“ (im weiteren Sinn).
Sie verlieren die historisch erworbenen, komplexen Mittel der Kunst
und der Wege zu ihr: Was lässt sich über den Gegenstand
der Kunst – nämlich die Welt – dann noch aussagen?
An ihre Stelle tritt effekthaschende Buntheit und postmoderne Beliebigkeit.
Schlimmstenfalls wird die „Vision“ des ehemaligen amerikanischen
Präsidentenberaters Brzezinski wahr, der 1995 von einer „20
zu 80 Gesellschaft“ sprach, wonach 20 Prozent mehr oder weniger
gut Verdienende, die ausreichen, um Produktion und Absatz zu gewährleisten,
80 Prozent Arbeitslosen gegenüberstehen, die mit „tittytainment“
unterhalten werden sollen, einer Mischung aus Almosen und primitiver
Massenunterhaltung. Brzezinski folgend würden Kunst und Kultur
überwiegend dazu dienen, die Leute bei Laune zu halten.
Es ist nicht zu erkennen, dass die kommunalen Finanzen in absehbarer
Zeit saniert werden sollten. Das GATS-Abkommen und die DLR aber
werden kommen. Ob es gelingt, dort längerfristig wirksame Ausnahmeregelungen
für Kunst und Kultur zu installieren, ist fraglich. Kann die
Lobby der Kulturverbände zusammen mit den Gewerkschaften den
nötigen Druck entwickeln gegen die geballte Macht der Wirtschaftsinteressen?
Vielleicht lassen sich Entwicklungen aufhalten. Eines ist klar,
ohne die Bereitschaft zum Konflikt und ohne die Orientierung auf
breite Bevölkerungsschichten wird nichts zu gewinnen sein.
Und ohne eine dauerhafte Sanierung der kommunalen Finanzen ist keine
akzeptable Kulturpolitik möglich, werden auch Musikschulen
geschlossen. Die Forderungen müssen lauten:
– Reform der Gemeindefinanzen.
– Einstellung der Zinszahlungen an die Banken, die die öffentliche
Finanzmisere mit herbeigeführt haben und kräftig davon
profitieren.
Kürzung des Rüstungshaushalts.
Öffentliche Investitionsprogramme auch für Bildung
und Kultur.
Ein Solidarpakt zwischen Arm und Reich. Diese Republik ist
nicht plötzlich verarmt, sondern man schätzt ein zu
vererbendes Vermögen von nahezu zwölf Billionen Euro.
Wiedereinführung der Vermögenssteuer und eine
Heraufsetzung der Erbschaftssteuer.
Der Deutsche Kulturrat ist der Auffassung, dass sich „kulturelle
Daseinsfürsorge nicht darin erschöpfen darf, ein Angebot
bereitzuhalten. Es kommt auch darauf an, die Bevölkerung mit
diesem Angebot zu erreichen“. Dazu brauchen wir als Musiklehrer
die Gewerkschaften, lokale Bündnisse, (zum Beispiel Attac,
Sozialforen), in der Musiker wirksam die Bedeutung von Kultur demonstrieren
können. Und wir müssen die Musikschulleitungen stärker
dazu bewegen, ihren in den „Leitbildern“ (Bergisch-Gladbach)
formulierten Anspruch ernst zu nehmen, Kinder, Jugendliche und Erwachsene,
Angehörige aller Kulturkreise, Nationalitäten, Generationen
und Bevölkerungsschichten erreichen zu wollen.
Es gibt einen aus der sozialstaatlichen Verfasstheit dieses Landes
her ableitbaren Bildungsauftrag der öffentlich-rechtlichen
Musikschulen. Der wird in Sonntagsreden von den Politikern beschworen,
niemand hat sich aber bisher durchringen können, ihn als Pflichtaufgabe
zu übernehmen. Das Staatsziel Kultur muss in das Grundgesetz
und in alle Landesverfassungen aufgenommen werden. Nach Auffassung
des Deutschen Kulturrats ist Kultur ein elementarer Bestandteil
öffentlicher Daseinsfürsorge, das heißt ein kontinuierliches,
flächendeckendes Kulturangebot in verschiedenen künstlerischen
Sparten zu erschwinglichen Preisen mit niedrigen Zugangsschwellen.
Musik als das Wesentliche
Auch die Bildung in den allgemein bildenden Schulen wird sich
den Liberalisierungs- und Deregulierungsabsichten nicht entziehen
können. Da in der allgemein bildenden Schule der Musikunterricht
immer weiter zurückgedrängt wird, Musiklehrer fehlen,
kaum noch musiziert wird und bei der Ausrichtung künftigen
„Humankapitals“ musische Bildung entbehrlich erscheint,
bleibt die Musikschule de facto der öffentliche Raum, in dem
alle Menschen sinnlich-praktische Erfahrungen mit Musik erwerben
können.
Um hier nicht die kurzschlüssig-funktionalistischen Argumente
um PISA und die Intelligenz fördernde Bedeutung der Musik zu
wiederholen (Musikunterricht führe unmittelbar zu besseren
Schulleistungen), sei aus einem Text von Klaus Holzkamp „Musikalische
Lebenspraxis und schulisches Musiklernen“ zitiert: In „vorfindlicher
Musik“ seien stets „auf irgendeine Weise Möglichkeiten
zur Bewältigung, Gestaltung, Steigerung subjektiver Befindlichkeit
historisch kumuliert. Im Vollzug, der musikalischen Bewegung hebt
sich in meinem Befinden das Wesentliche, Überdauernde, Typische
gegenüber den bloßen Zufälligkeiten und Zerstreutheiten
meines Befindens heraus. In der Realisierung gesellschaftlich kumulierter
emotionaler Erfahrungen sind, obwohl hier meine eigene Befindlichkeit
‚bewegt‘ und strukturiert ist, dennoch die Grenzen meiner
‚bloß‘ individuellen Erfahrungen überschritten.
Meine eigene Befindlichkeit tritt mir in der Musik in überhöhter,
verallgemeinerter, verdichteter Form entgegen, ohne dass dabei die
sinnlich-körperliche Unmittelbarkeit meiner Betroffenheit reduziert
wäre. So mag sich, je nach der Art der realisierten musikalischen
Bewegungsstruktur, mein emotionales Engagement von ,zufälligen‘
Ängstlichkeiten und Bedenklichkeiten befreit – intensivieren,
radikalisieren und bis zur Ekstase steigern. Ich mag aber über
die Musik auch eine neue Distanz zu meinen aktuellen emotionalen
Lebensäußerungen gewinnen, wobei diese Distanz wiederum
nicht nur ‚kognitiver‘ Art ist, sondern ihre eigene
unverwechselbare Erfahrungsqualität gewinnt: Als ‚innere
Ruhe‘, Übersicht, Gelassenheit, bis hin zur kontemplativen
Versunkenheit als Gegenpol zu musikalischer Ekstase. In jedem Falle
aber gewinne ich über die Musik eine neue Freiheit gegenüber
den Anfechtungen und Wirrnissen des Naheliegenden. Indem ich durch
meine Ergriffenheit von Musik, die mir keiner wegnehmen oder ausreden
kann, mich selbst, meine Lebendigkeit, meine widerständige
Präsenz in dieser Welt, quasi in reiner und gesteigerter Form
erfahre, bin ich – mindestens vorübergehend – weniger
bestechlich und nicht mehr so leicht einzuschüchtern“.
In Zusammenhang mit PISA und der Musik wird immer wieder die Entwicklung
sozialer Kompetenz erwähnt, die unmittelbar durch die musikalische
Betätigung erwachse. Welche sozialen Kompetenzen sind eigentlich
damit gemeint im Zeitalter der propagierten Ellenbogen, des Individualismus
und der sozialdarwinistischen Auffassung vom „Survival of
the fittest“? Durchsetzungsfähigkeit auf Kosten anderer?
Die Kompetenz, andere ungestraft und folgenlos übers Ohr zu
hauen? Oder die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen,
und mit anderen zusammen den gesellschaftlichen Missstand zu verändern?
Aufgabe einer Musikschule ist selbstverständlich die Begabtenfindung
und -förderung sowie die Bereitstellung der Möglichkeiten,
die eine Qualifikation für Studium und Beruf vermitteln. Begabungsunterschiede
sind offenkundig. Es ist meiner Meinung nach aber wichtig, nicht
bei
dieser Augenscheinlichkeit stehen zu bleiben, sondern der „Begabung“
nicht eine quasi „natürliche“ Dimension zu unterstellen.
Viel eher verweisen Begabungsunterschiede auf individuelle Behinderungen
bei der Aneignung des „kulturellen Erbes“, auf die vernachlässigte
oder verhinderte Entwicklung musikalischer Sinne. Ein „Musik-Gen“
nämlich wurde bislang noch nicht entdeckt, so dass ihre biologische
Potenz wohl allen menschlichen Wesen die Ausbildung musikalischer
Fähigkeiten gestattet. Von Otto Schily stammt der Satz: „Wer
Musikschulen schließt, gefährdet die innere Sicherheit.“
Wenn Musikschulen geschlossen werden, dann sollten wir alle lautstark
und kreativ die „innere Sicherheit“ derjenigen gefährden,
die glauben, uns ohne nennenswerten Widerspruch, in einer noch immer
reichen und reicher werdenden Republik, einreden zu können,
für öffentliche Kultur sei kein Geld mehr da.