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nmz-archiv
nmz 2005/07 | Seite 1
54. Jahrgang | Jul./Aug.
Leitartikel
Gescheiterte Verfassung, fassungslose Kultur?
Die Entwicklung einer europäischen Verfassung ist gescheitert
· Von Martin Hufner
Friedrich Nietzsche warf im 19. Jahrhundert den Deutschen vor,
sie hätten mit ihren Freiheitskriegen eine politische und wirtschaftliche
Einheit Europas verhindert und damit diese „kulturwidrigste
Krankheit und Unvernunft, die es gibt, den Nationalismus (...),
diese Verewigung der Kleinstaaterei Europas, der ,kleinen’
Politik“ auf dem Gewissen. Sie hätten Europa „in
eine Sackgasse gebracht.“ 130 Jahre später behält
diese Einschätzung ihr Recht, nur trifft sie andere: Frankreich,
die Niederlande und Großbritannien. Denn die Verabschiedung
einer europäischen Verfassung ist gescheitert. Ein „Ja“
zur Verfassung kam zuvor zwar von Österreich, Spanien, Griechenland,
Ungarn, Italien, Lettland, Litauen, Slowenien und der Slowakei.
Doch das interessiert jetzt offenbar niemanden mehr.
Man könnte sich die Sache leicht machen, die Angelegenheit
für erledigt erklären und im alten Wasser der Brüsseler
und Straßburger Bürokratie weitersegeln. Denn die Europäische
Union gibt es selbstverständlich weiterhin, nur fehlt ihr ein
gemeinsames und für alle verbindliches politisches Programm,
eben eine Verfassung. Es war deren Ziel, für die aktuellen
und zukünftigen Mitgliedstaaten verpflichtende Grundwerte des
Zusammenlebens zu bestimmen. Sie hätten „Achtung der
Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit
und Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der
Personen, die Minderheiten angehören“ geheißen.
Hinzu getreten wären besondere Forderungen wie: „Pluralismus,
Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität
und die Gleichheit von Frauen und Männern.“ Ein bunter
Strauß, dem wohl kein einziger Mitgliedstaat bisher genügt
und damit auch eine europäische Herausforderung.
Aber die Verfassung wies auch Streitpunkte auf. So sei es Ziel,
„einen Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb“
zu schaffen ebenso wie eine „nachhaltige Entwicklung Europas
auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von
Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige
soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen
Fortschritt abzielt“, zu entwickeln. Die Verquickung von Gummibegriffen
(„sozialer Fortschritt“, „Vollbeschäftigung“)
und die klare Definition der Wirtschaftsform („soziale Marktwirtschaft“)
wirkt unglücklich und einengend. Der oben genannte Wertekanon
wird auf diese Weise vornehmlich durch ökonomische Prinzipien
definiert und garantiert, so als ob nur dieser Weg möglich
und erlaubt sei. Verkehrte Welt: das Ver- und Entwertungsrecht der
gesellschaftlichen Grundordnung erhält auf diese Weise die
Wirtschaft.
Genau dies kritisiert zum Beispiel ein Aufruf europäischer
Künstler, der so genannte „Aufruf
der Tausend“, den unter anderem Pierre Boulez, Wolfgang
Rihm, Heiner Goebbels und Claudio Abbado seit Juni 2004 unterzeichnet
hatten. Dort heißt es: „Wenn das Europa der Waren und
des Konsums die Oberhand gewinnen würde über die Kultur
Europas, wenn die Idee des Großmarktes sich anstelle eines
politischen und kulturellen Projektes durchsetzen würde, wäre
es denkbar, dass die Weltkrise in einer Auseinandersetzung zwischen
Integrismus und Materialismus gipfeln würde. Eine solche Auseinandersetzung
könnte noch schmerzlichere und verhängnisvollere Folgen
haben als die Ereignisse, die die Menschheit im vergangenen Jahrhundert
heimgesucht haben.“ Eine beinhahe apokalyptische Warnung.
Sie fordern in ihrem Aufruf „die Regierungschefs und Staatsoberhäupter
der 25 Mitgliedstaaten auf, eine Europäische Verfassung anzunehmen,
die ein echtes, auf dem gemeinsamen kulturellen Erbe und unseren
gemeinsamen Vorstellungen von Demokratie, Freiheit, Achtung der
Menschenrechte und der Menschenwürde aufbauendes Kulturprojekt
ist. In diesem Zusammenhang müssten die wirtschaftlichen Ziele
als Mittel zum Zweck und nicht als unmittelbarer Inhalt dienen.“
Man muss beklagen, dass in dieser Verfassung über den Wertekanon
viel zu viel festgelegt ist – vor allem eben menschenfreie,
an dem globalen Markt orientierte wirtschaftliche, außen-
und weltpolitische Aspekte. Doch diese sind nach Meinung des Sozialphilosophen
Jürgen Habermas zwingend an erster Stelle. Habermas sieht vor
allem die USA und die Regierung Bush als Nutznießer der nicht
gelungenen Verfassungseinigung. Habermas resümiert, es „würden
diejenigen triumphieren, denen der Verfassungskompromiss zu weit
geht“. Statt zwischenstaatlicher Kommunikation gewännen
nicht europäische Parlamente sondern Regierungskonferenzen
die europäische Entwicklungsvormacht. Damit wird die Bürgerbeteiligung
weiter heruntergeschraubt – ironischerweise mit dem Mittel
des Bürgerentscheides (wie in Frankreich und den Niederlanden).
Das Scheitern des Verfassungsprozesses dürfte für die
(europäische) Kultur keine Vorteile bringen, aber vielleicht
auch wenigstens keine Nachteile; zumindest wenn man die Hoffnung
nicht aufgegeben hat, dass demnächst kulturelle Fragen der
Einigung vor ökonomischen stünden. Alle Zeichen der Zeit
weisen allerdings in die andere Richtung. Auch zukünftig wird
Europa allein ökonomisch und bürokratisch bewältigt
werden. Kultur als gesellschaftseinende und -korrigierende Kraft
dankt eher ab. Kultur in Europa existiert nur noch im Untergrund,
nicht mehr auf der öffentlichen Bühne, die von Marktprinzipien
bestimmt wird. Alle öffentliche Kultur, unabhängig von
ihrer Lage in Europa, steht somit prinzipiell vor ihrer Abschaffung
durch die Ökonomie. Doch Wettbewerbsökonomie kann Kultur
nicht ersetzen, denn sie verbindet die Menschen nicht, sie trennt
sie von einander und spaltet sie an sich.