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nmz-archiv
nmz 2005/07 | Seite 12
54. Jahrgang | Jul./Aug.
Nachschlag
Großes Geweine
Jetzt jammern sie alle. Warum wollen die Europäer nicht in
das schöne, große Zimmer ziehen, das ihnen die Parlamentarier
– oder sind es Parlament-Arier? – aller Länder
gezimmert haben? Es ist wie der sonnige, klimatisierte und ebenso
ergonomisch wie praktisch durchgestylte Wohnraum mit hochwertiger
Kunststoff-Einrichtung vor den Rändern der Stadt, den eine
alte Frau aus der kleinen, verwinkelten Innenstadtwohnung, die aus
Rentabilitätsgründen zu räumen war, nicht beziehen
will. Das geht nicht in die Hirne, in diese vernagelten, die nicht
begreifen wollen, dass es andere, wichtigere Werte gibt als die
des Praktischen und der Rentabilität.
Frankreich und Holland haben natürlich nicht gegen die Verfassung
gestimmt (sie wurde von einem Gutteil der Wähler gar nicht
gelesen). Da greifen andere Mechanismen, einfachere: Man vertraut
auf die Kompetenz der Sachverständigen, die schon die richtigen
Formulierungen lückenlos finden werden; und man vertraut nicht
blind, sondern lauscht auf die Widersprüche, die von Fanatikern
jeglicher Couleur erhoben werden. Die Einwände kamen (keine
Verankerung des Christentums et cetera), aber sie waren relativ
dünnhäutig, hatten letztlich wenig Gewicht. Die Verfassung
wird also in den Grundzügen und als Basis für weitere
Arbeit und Konkretisierung schon gestimmt haben.
Das Misstrauen lag und liegt ganz wo anders. Es richtet sich gegen
fremde Kultur, gegen das Fremde ganz allgemein. Und damit wurde
im europäischen Einigungsprozess über Jahrzehnte Schindluder
getrieben. Nie machte man sich die Mühe, über europäische
Kultur als Integrationsmoment nachzudenken. Geld stand dafür
kaum zur Verfügung, und das wenige wurde oft noch für
europäische Selbstdarstellungs-Events ausgegeben: eine klebrige
Soße aus klein gehackten Gute-Laune-Bären. Aber nicht
nur Geld wurde nicht ausgegeben, es wurde sich auch kaum die Mühe
gemacht, über diese Widersprüche und über das Verbindende
dazwischen auch nur nachzudenken. Das kommt von alleine, wenn das
andere einmal steht, meinte man in verbohrter Ökonomie- und
Praxis-Orientierung. Gerade so aber ist es nicht. Erst einmal müsste
die Vision entstehen und wachsen, Europa als Heimat zu verstehen
(und dafür steht eine vieltausendjährige Geschichte mit
gemeinsamen Grundwerten und Anschauungsformen): dass man nicht ins
Fremde geht, wenn man nach Polen, Finnland oder Portugal fährt,
sondern nur ins Andere. Kultur ruht auf zwei Sockeln. Auf dem Beharrlichen
des Eigenen und auf der Neugier gegenüber dem Anderen.
Bleiben beide Seiten intakt, dann entsteht das Gefühl der
Bereicherung. Es ist schön, wenn man ohne viel Aufwand von
Budapest nach Madrid fahren kann, es ist eine gute Sache, wenn ein
in Prag erarbeitetes Konzertprojekt auch in Amsterdam gehört
werden kann. Es ist aufregend und spannend, wenn sich Menschen ohne
Misstrauen begegnen. Wenn solches zur Selbstverständlichkeit
würde, dann wäre dem Misstrauen gegenüber Europa
(das einen von oben regiert, das uns bevormundet) viel an Wasser
abgegraben.
Hier aber hat man in Europa fundamental versagt. Ganz im Geiste
vulgärmarxistischer Ansätze setzte man allein auf die
ökonomische Basis und vernachlässigte den Überbau.
Und jetzt weint man, dass Europa ja etwas anderes sei als bloß
eine Freihandelszone. Der Sockel der Kultur (neben Wirtschaft und
Verteidigung) wurde, wenn überhaupt, nur aus losem Sand gebaut.
Jetzt wundert man sich, dass der Turm kippt. Ein „Weiter so“
kann es in der Tat nicht geben. Aber auch der verordnete Stillstand
des Abwartens nützt nichts. Es gilt der Neubesinnung. Und hier
muss die Kultur mit allen ihren Begleiterscheinungen, zum Beispiel
das Gefühl einer erweiterten Heimat, das des Wohlbehagens im
Austausch wie im Erhalt der eigenen Identität, ein entschieden
deutlicheres Gewicht bekommen.