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nmz-archiv
nmz 2005/07 | Seite 4
54. Jahrgang | Jul./Aug.
Magazin - Musik
Utopien eines messianischen Zustands
Ein Aufsatzband auf der Suche nach friedfertiger Musik
Frieden hören: Hinter diese Wortverbindung würde man
wohl am ehesten ein Fragezeichen setzen. Denn wie soll das vor sich
gehen: Frieden hören? Nicht so der Politikwissenschaftler und
Friedensforscher Dieter Senghaas (siehe
auch seinen Beitrag auf Seite 3). Die 2003 beim Tübinger
Institut für Friedenspädagogik erschienene CD-ROM mit
kommentierten Musikbeispielen hat er mit einem Ausrufezeichen versehen:
„Frieden hören!“, um im Untertitel freilich eine
Einschränkung vorzunehmen: „Annäherungen an den
Frieden über klassische Musik“. Die auf einer Radiosendung
basierende Zusammenschau geht zurück auf seinen 2001 publizierten
Suhrkamp-Band „Klänge des Friedens“, einen „Hörbericht“,
in dem Senghaas, akribisch recherchiert und kundig, mit erfrischender
Distanz zur akademischen Musikwissenschaft kommentiert, eine erstaunliche
Fülle vorwiegend sinfonischer Werke unter dem Aspekt von Krieg
und Frieden in einen gemeinsamen Kontext stellt.
Krieg und Frieden: Dass der Gegenbegriff sofort mitgedacht ist,
dessen Abwesenheit ja die Grundbedingung für das Vorhandensein
von Frieden ist, macht auch schnell die methodischen Schwierigkeiten
klar, vor die sich die meisten Autorinnen und Autoren des nun vorliegenden,
von Senghass gemeinsam mit Hartmut Lück herausgegebenen Sammelbandes
gestellt sahen. „Vom hörbaren Frieden“ sollten
sie wissenschaftliches Zeugnis geben, ohne dass historisch gewachsene
Stilmerkmale oder gar ein Gattungsbegriff einer „Friedensmusik“
auszumachen wären. Das Genre der „Battaglia“ hat
sich mittels Kriegsgetümmel und Schlachtenlärm von Jannequin
über Beethoven bis Tschaikowsky seinen Platz als Forschungsgegenstand
erkämpft, das pazifistische Pendant kann da als lexikalische
Größe noch nicht mithalten.
Frieden in der Musik: So könnte eine erste Kategorisierung
lauten, der die Aufsätze folgen. Musik also, denen ein zu vertonender
Text (der Messe etwa), die Thematik einprägt und die ohne diesen
Bezug wahrscheinlich nur sehr vage als Musik des Friedens wahrgenommen
würde. Evá Pintérs Übersicht zu „Da
pacem“-Vertonungen und Hartmut Möllers tiefer gehenden
Überlegungen zu Beethovens Missa Solemnis und Bachs h-Moll-Messe
gehen in diese Richtung, den Bereich der Popularmusik durchmisst
Dietrich Helms („Ein bisschen Frieden hören“) mit
kritisch-souveränem Blick.
Musik für den Frieden als Musik gegen den Krieg: Bezeichnenderweise
gewinnen die Beschreibungen einzelner Werke oder Werkteile –
Analysen im eigentlichen Sinne finden sich nur sporadisch –
vor allem dort besondere Relevanz, wo eine Friedensbotschaft sich
über den Umweg der Thematisierung von Krieg eine Stimme verschafft.
Beinahe der komplette Opernbesuch durch Jörg Calließ
steht unter diesem Vorzeichen („Frieden ist in der Oper nicht
heimisch“). Und Stefan Hanheide muss am Ende seines Beitrags
zu „Mahlers Musik im politischen Kontext“ feststellen:
„Erst in der Umgebung von Kriegsklängen kann man bei
Mahler politischen Frieden in der Musik entdecken.“ Vielfach
ist es sogar so, dass eine „Friedensmusik“ nur ex negativo
zu fassen ist, als besonders drastische und klar politisch motivierte
Anklage gegen Krieg, Gewalt, sozialen Unfrieden, Rassismus. Ob nun
Albrecht Dümling Eisler, Weill und Dessau oder Andreas Wehrmeyer
Schostakowitsch daraufhin befragt, ob Peter Schleuning eine stichhaltige
Umdeutung der „Eroica“ präsentiert, oder Hanns-Werner
Heister und Hartmut Lück musikalische Aufschreie gegen Hunger
und Angst beziehungsweise angesichts historischer „Orte des
Schreckens“ zusammentragen: es ergibt sich die paradoxe Situation,
dass in etwa in der Hälfte der Aufsätze der Krieg das
eigentliche musikalische Thema ist. So verdienstvoll diese über
Senghaas’ bisherige Arbeiten weit hinausgehende Sichtung des
Materials auch ist (ein Register wäre freilich hochwillkommen
gewesen), es beschleicht einen immer wieder das Gefühl, dass
dies noch nicht zum Kern der Fragestellung vordringt.
Musik als Frieden: Claus-Steffen Mahnkopf und Martin Geck ist
es vorbehalten, in ihren sich konstruktiv ergänzenden Essays
den Blick von oben zu wagen. Mahnkopf fasst den Friedensbegriff
abstrakter, indem er ihn mit der Idee des Messianischen bei Bloch,
Adorno und Benjamin in Spannung setzt. Was abgehoben und verkopft
anmuten könnte erweist sich als eben jener Blick über
das abgegrenzte Feld hinaus, als jene Erweiterung des Horizonts,
der auch einer Musik eigen sein muss, die mehr sein will als eine
Beschreibung oder Beschwörung von Frieden. Einer Musik, die
selbst zur Utopie eines messianischen Zustands werden kann, sofern
sie – so Mahnkopfs Kategorie – mittels Zeitdehnung „einen
Darstellungs- und Erlebnisraum zu öffnen“ vermag, „der
sich von der überbietungsdynamischen Ökonomie der Gegenwart
(…) distanziert und damit dem Rezipienten Zeit gewährt,
die ihm sonst nicht vergönnt würde und es ihm ermöglicht,
die Dinge in neuem Lichte zu betrachten“. Mahnkopf sieht dies
bei Cage, Feldman, Lachenmann, Nono und Klaus Huber realisiert;
spannend wäre es nun gewesen, hätten Hartmut Lück
und Max Nyffeler in ihren Beiträgen über die beiden Letztgenannten
Gelegenheit gehabt, diese These zu diskutieren. Indirekt wird Mahnkopfs
Reflexion von Martin Geck ergänzt. Er benennt die Voraussetzungen
auf der Rezipientenseite dafür, dass Musik als „schöpferische
Idee eines gesellschaftlichen Gefüges, das mit Konflikten lebt,
ohne sich selbst zu zerstören“, wahrgenommen wird: „Sorgen
wir dafür, dass sie nicht bewusstlos oder passiv, sondern auf
eine Weise gehört wird, die menschheitserhaltende Ideen generiert.“
Insgesamt zeigt dieser Band, in dem überdies die Komponisten
Hartmann, Yun und Henze berechtigten Raum einnehmen sowie die Themenbereiche
Schlachtmusiken, Vereinnahmung von Musik zu nationalistischen Zwecken,
Friedenslieder seit dem 19. Jahrhundert sowie Aspekte der Weltmusik
eingekreist werden, welche Relevanz eine Musikwissenschaft immer
dort gewinnen kann, wo sie sich mit Fragen beschäftigt, die
(scheinbar) über den Forschungsgegenstand hinausweist. Dieter
Senghaas ist dafür zu danken, diese Fragen gestellt zu haben.
Juan Martin Koch
Vom hörbaren Frieden, hg. von Dieter Senghaas und Hartmut
Lück, Edition Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2005, 606 S., €
14,- ISBN 3-518-12401-3