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nmz-archiv
nmz 2005/07 | Seite 3
54. Jahrgang | Jul./Aug.
Stückwerk
Seismographische Erinnerung an die Zukunft
Karl Amadeus Hartmanns erstes Streichquartett und die „Gesangsszene“
· Von Dieter Senghaas
„Was Menschen zu verschiedener Zeit in dieser Hinsicht umgetrieben
hat – Kriegsängste und die Sehnsucht nach Frieden sowie
das gesamte Spektrum von historischen und lebensgeschichtlichen
Erfahrungen dazwischen – wird auch in Kompositionen hörbar.”
Der am Institut für interkulturelle und internationale Studien
der Universität Bremen lehrende Politikwissenschaftler und
Friedensforscher Dieter Senghaas hat sich wiederholt mit der Frage
auseinandergesetzt, inwiefern Frieden auch eine musikalische Kategorie
sein kann, zuletzt in dem Sammelband „Vom hörbaren Frieden”
(siehe die Besprechung auf Seite 4). Für die neue musikzeitung
nimmt er nun Karl Amadeus Hartmanns 100. Geburtstag am 2. August
zum Anlass einer auf zwei Hauptwerke des Komponisten bezogenen Reflexion.
Hellsichtiger Blick über
den Partiturrand: Karl Amadeus Hartmann. Foto: F. Timpe
In Christa Wolfs Erzählung „Kassandra“ (1983)
ist der bemerkenswerte Satz zu lesen: „Wann Krieg beginnt,
das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da
Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen.“ Seit Jahren
ist sowohl in der Wissenschaft als auch in der internationalen Politik
eine intensive Suche nach solchen Regeln oder sagen wir präziser:
nach Indikatoren der Früherkennung drohender Konflikteskalation
zu beobachten. So wurden jüngst in dem „Bericht der Hochrangigen
Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel“
an den Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan,
zahlreiche Vorschläge hinsichtlich „early warning“
und vorbeugender Maßnahmen vorgetragen. In Deutschland haben
sich seit den kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan
in den 90ern sowohl auf staatlicher als auch nichtstaatlicher Ebene
die Bemühungen um „zivile Konfliktbearbeitung“
intensiviert. In der Friedensforschung war man schon seit langem
auf der Suche nach einschlägigen Indikatoren: Manche von ihnen
sind ganz naheliegend, so beispielsweise die überdurchschnittliche
Zunahme an Rüstungsausgaben (wie seit Jahren in den USA und
neuerdings in China beobachtbar), was als „harter Indikator“
gilt.
Von besonderem Interesse allerdings sind „weiche“ Indikatoren,
die Veränderungen im seelischen Haushalt einer Gesellschaft
widerspiegeln, so beispielsweise eine an Häufigkeit und Intensität
zunehmende pejorative Semantik über den so genannten „potenziellen
Gegner“, der darüber zum manifesten Feind wird. Eine
solche Verschiebung in den öffentlich einprägsamen Symbolen
dokumentiert sich dann allermeist in relevanten Zeugnissen der Elitekultur
als auch auf Massenbasis. Wird man auch in den Künsten, insbesondere
in der Musik in dieser Hinsicht fündig?
Eine relativ leicht zu bewältigende Aufgabe wäre es,
Kompositionen, die der musikalischen Aufrüstung dienen sollten,
zusammenzutragen. Ebenfalls fiele es nicht schwer, Musik mit gegenteiliger,
also antimilitaristischer Stoßrichtung als Indiz für
einen sich entwickelnden oder schon real existierenden Militarismus
zu interpretieren. Aber gibt es auch, ganz im Sinne von Christa
Wolfs Diktum, Kompositionen, die auf subtile Weise den frühen
Beginn eines Vorkriegs, nicht also erst des Krieges, anzeigen? Gibt
es vielleicht sogar Komponisten oder Komponistinnen, in deren Lebenswerk
sich ein solches Sensorium ausdrückt?
Angekündigte Katastrophen
Es dürfte heute unbestritten sein, dass sich an der Wende
vom 19. zum 20. Jahrhundert in dem Gesamtwerk von Gustav Mahler
Katastrophen ankündigten, so insbesondere in den so genannten
„Soldatenliedern“, vor allem in „Revelge“
(1899), und unmissverständlich-unüberhörbar in seiner
6. Sinfonie (1903/06). Unüberhörbar, wenngleich hinsichtlich
der thematischen Zuordnung schwieriger begründbar, wird Katastrophisches
in drei Marsch-Kompositionen unmittelbar vor Ausbruch des Ersten
Weltkrieges antizipiert und zum Ausdruck gebracht: im vierten Satz
(„marcia funebre“) der Vier Orchesterstücke op.
12 von Béla Bartók aus dem Jahre 1912, im vierten
Satz („marcia funebre“) der Sechs Stücke für
Orchester op. 6 (1910/13) von Anton Webern, im dritten Satz („Marsch“)
der Drei Orchesterstücke op. 6 (1914) von Alban Berg –
sowie ein Vierteljahrhundert später dann im zweiten Satz („molto
adagio“) des Divertimento für Streichorchester von Béla
Bartók aus dem Jahre 1939: zwei Wochen nach Beendigung dieser
Komposition begann der Zweite Weltkrieg. Keineswegs plakativ oder
gar propagandistisch ausgelegt und auch nicht explizit programmatisch
intendiert stehen diese Kompositionen unter dem hörbaren Vorzeichen:
„periculum in mora“ – Gefahr in Verzug! Was durch
ihr Hörbild unmittelbar eindrucksvoll deutlich wird, ist die
Tatsache, dass eine Katastrophe sich ankündigt beziehungsweise
eine drohende Konflikteskalation eine Eigendynamik gewinnt, das
politische Geschehen nicht mehr kontrollierbar ist und folglich
die Katastrophe, wie man in der Friedensforschung formuliert, sich
kataklysmisch entwickelt, sich also zu grundstürzenden Verwerfungen
zuspitzt – gewissermaßen, obgleich von Menschen verursacht,
zu einer Gewalt wie eine Tsunami-Flutwelle wird.
Wenn jedoch ein Komponist des 20. Jahrhunderts in diesem Zusammenhang
der besonderen Erwähnung und Hervorhebung bedarf, dann ist
das Karl Amadeus Hartmann, über dessen frühes Werk und
den ihm inhärenten prognostischen Charakter es inhaltliche
Kontroversen eigentlich nicht (mehr) geben sollte.
Früh ausgeprägtes Sensorium
Als der Zweite Weltkrieg am 1. September 1939 mit der Invasion
in Polen durch die Hitler’sche Wehrmacht begann, war Hartmann
dabei, das „Concerto funebre“ zu vollenden. Diese Trauermusik
des damals 34-jährigen Komponisten bündelte die thematische
Stoßrichtung und die Gestik der Werke, die Hartmann mit Beginn
der Nazi-Herrschaft in Deutschland ab 1933 komponierte. Wann der
Weltkrieg begonnen hatte, das konnte man nun wissen, und Hartmanns
„Musik der Trauer“ antizipierte dessen nicht nur für
Deutschland, sondern für die Menschheit katastrophales Ende.
Doch der Vorkrieg (ganz im Sinne von Christa Wolfs Aussage) begann
für Hartmann mit der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar
1933. Hartmann reagierte auf dieses Ereignis mit seinem 1. Streichquartett
(1933/34), mit einer sinfonischen Dichtung für Orchester „Miserae“
(1934), des weiteren mit der Oper „Des Simplicius Simplicissimus
Jugend“ (1934/35), mit einer Kantate „Lamento“
(1935/36) nach Worten von Walt Whitman sowie mit einer Komposition
nach Texten von Andreas Gryphius „Friede Anno ’48“,
deren erster Satz „Krieg“ und deren letzter Satz „Friede“
betitelt sind. Wenn in den 1960er-Jahren Alexander und Margarete
Mitscherlich im Hinblick auf die bis dahin ausgebliebene Auseinandersetzung
der deutschen Elite und Bevölkerung mit der Barbarei der 1930er-
und 1940er-Jahre bei ihren Mitbürgern eine (so der Buchtitel
1967) „Unfähigkeit zu trauern“ diagnostiziert hatten,
so könnte man im Hinblick auf das frühe kompositorische
Schaffen von Karl Amadeus Hartmann geradezu die gegenteilige These
formulieren: Ausdrucksstark dokumentiert sein Werk die Fähigkeit
zu trauern. Und diese Trauerarbeit beginnt eben nicht 1945 angesichts
der eingetretenen und allseits unübersehbaren Katastrophe,
sondern schon 1933. Hartmann war damals 28-jährig!
In den späten 1920er-Jahren galt er, jung an Jahren und kompositorisch
draufgängerisch, als ein enfant terrible der Münchener
Musikszene. Als er 1933/34 sein 1. Streichquartett vorlegte, kam
diese Komposition einer tiefen Zäsur im Schaffen des jungen
Künstlers gleich. Sie enthält im übrigen schon alle
wesentlichen Elemente seiner darauffolgenden und auch der späten
Kompositionen: den Trauergestus, die Niedergedrücktheit, Seufzerfiguren,
gleichzeitig aber auch unerwartete Erregungen, Explosionen, scharfe
Akzentuierungen – und dazwischengeschoben gelegentliche verhaltene
Lichtblicke. Dieses 1. Streichquartett von 1933 ist somit das Dokument
einer Trauerarbeit ex ante, eine Ausdrucksmusik im besten Sinne
des Begriffes. Diese wie auch die unmittelbar folgenden Kompositionen
mit einem Höhepunkt im zitierten „Concerto funebre“
machen deutlich, dass Hartmann – man muss es wiederholen:
28/29-jährig – ein früh ausgeprägtes Sensorium
für den beispiellosen, sich abzeichnenden Zivilisationsbruch
hatte. Wenn Hans Werner Henze einmal in einer Laudatio auf Hartmann
sagte, dass die Niederschrift der Komposition für Hartmann
etwas von subversiven Handlungen gehabt habe: „wie das Verfassen
von Flugblättern oder das Abhalten unerlaubter Versammlungen“,
dann gilt dies auch schon für diese früheste, von politischem
Atem durchseelte Komposition. Schon in ihrem ersten Satz wird, wenngleich
chiffriert, verbotene jüdische Musik zitiert, so wie dies später
in anderen Werken mehrfach der Fall war. Zitiert werden in den frühen
Werken auch Komponisten wie Bartók, Kodály, Strawinsky
und andere, deren Musik hierzulande als so genannte „entartete
Kunst“ verfehmt war. Glücklicherweise waren die nationalsozialistischen
Kulturfunktionäre zu dumm, um diese Art der Subversion, so
auch die vielfachen Zitate von Liedern der deutschen und internationalen
Arbeiterbewegung zu erkennen.
Prognostischer Charakter
Für Karl Amadeus Hartmann war Trauerarbeit allerdings nicht
nur Klage, sondern eben auch Anklage. Und obgleich schon in diesem
1. Streichquartett (wie in den späteren Werken) Hoffnungslosigkeit
unüberhörbar ist, wird diese ebenso unüberhörbar
durch Aufbegehren, Protest, ja Wut konterkariert. Alles ist schon
hörbar hier: die harten Schnitte, die schroffen Kontraste,
die polaren Kräfte, die die dramatische Gestik der Hartmann’schen
Werke auszeichnen werden. Es ist, wie einmal Hanns-Werner Heister
formulierte, „leidenschaftliche Trauer“, die in dieser
Musik zum Ausdruck kommt.
Mit 1933 hatte für Hartmann der Vorkrieg begonnen. Neben anderen
Werken (so insbesondere der „Klaviersonate 27. April 1945“)
wurde 1945/46 sein 2. Streichquartett zu einem markanten Dokument
einer Trauerarbeit ex post, die später auch andere Komponisten
wie Hindemith, Schönberg, B. Britten, Penderecki, Nono, I.
Yun in berühmt gewordenen Werken zum Ausdruck brachten. Aber
ist es ein Zufall, dass Hartmanns letztes, fast vollendetes Werk,
die „Gesangsszene“ für Bariton und Orchester zu
Worten aus „Sodom und Gomorrha“ von Jean Giraudoux (1962/63),
wiederum von geradezu prognostischem Charakter ist, wenn in dieser
Komposition die ökologische Katastrophe, in die die Menschheit
sich immer mehr hineinmanövriert, mit wiederum dramatischem
Gestus zum Ausdruck kam, – und dies lange ehe die Problematik
öffentlich bewusst und das Thema politisch hoffähig wurde?
Anders als in den unbeschrifteten Werken artikuliert sich Hartmann
hier auch auf sprachlicher Ebene ganz kongenial zu seinem Kompositionsstil:
mit unnachsichtiger Kritik an politischen Wahnvorstellungen, mit
subtilem Sinn für die Dialektik der Aufklärung. Der Traum
der Menschheit von einem grenzenlosen technologischen Fortschritt
schlage auf einem unwirtlich werdenden Planeten in den „Krieg
aller Kriege“, in Selbstzerstörung, um: „Und die
Schwalben fliegen hoch, weil die Erde heute ein Kadaver ist und
alles, was Flügel hat, aus ihrer Nähe flieht.“
Hartmann, der immer politisch sensible, humanistisch inspirierte
Zeitdiagnostiker mit geradewegs seismographischen Fähigkeiten,
blickte kurz vor seinem allzu frühen Tod (1963) in apokalyptische
Abgründe – in dieser letzten Komposition allerdings ohne
Aussicht auf einen Frieden mit der Natur und damit auch ohne Aussicht
auf Frieden unter den Menschen: „In jedes Vogellied hat ein
grauenhafter Ton sich eingeschlichen, ein einziger nur, doch der
tiefste Ton aller Oktaven – der des Todes.“ Und dennoch,
Hartmann hinterließ auch diesen Satz: „Hält man
der Welt den Spiegel vor, so dass sie ihr grässliches Gesicht
erkennt, wird sie sich eines besseren besinnen.“ Wird sie
das wirklich?
Die zu Beginn zitierten Werke von vor 1914 und insbesondere Hartmanns
Werk provozieren die ganz naheliegende Frage: Welches sind heute
die Kompositionen vergleichbar seismographischer Qualität;
wer die Komponisten und Komponistinnen, deren Werk schon in der
Gegenwart Zukunft erinnern lässt? Spurensuche ist angesagt.