[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2005/10 | Seite 8
54. Jahrgang | Oktober
Magazin -
Tobias PM Schneid
Die Entdeckung der Gleichzeitigkeit
Der Komponist Tobias PM Schneid im Porträt
Gegen 18 Uhr ist die Aufnahmesitzung im Studio des Deutschlandfunk
am Raderberggürtel beendet. Seit 10.30 Uhr haben die Mitglieder
der musikfabrik nrw Ensemblestücke von Tobias PM Schneid gespielt
– rasende 1/16 Läufe wechselten mit extrem langsamen
Passagen, an der Grenze der Dirigierbarkeit. Konzentrierte Arbeit
für alle Beteiligten, den anwesenden Komponisten, der vom Können
der musikfabrik nrw begeistert ist und der gerade deshalb immer
noch eine Idee hat, wie es besser klingen könnte, eingeschlossen.
In vier Produktionstagen entsteht die Einspielung von sechs Ensemblemusiken
für eine Porträt-CD des Deutschen Musikrates über
Tobias PM Schneid (siehe
Rezension unten). Anlass für ein ausführliches Gespräch
mit dem Komponisten.
Tobias
PM Schneid, fotografiert von seinem Sohn Simon Emanuel
„Ständig umgibt einen Geschichte“ – dieser
Situation sieht der Komponist Tobias PM Schneid sich nicht nur ausgesetzt,
wenn er, der im beschaulichen Neuburg an der Donau lebt, im Schatten
des Doms durch die Kölner Altstadt zum WDR-Funkhaus geht. Er
sieht den Weg als Bild für seine Situation als Komponist: „Die
Gleichzeitigkeit der Zeitalter ist einer der Gründe, warum
in meiner Musik – vom Material her betrachtet – ganz
disparate Momente stattfinden – Geräuschhaftes neben
Dur-Dreiklängen.“
Schneid wird genauer: „Ich lebe in einer Welt, die den gleichzeitigen
Ablauf von verschiedenen Ebenen voraussetzt, auch akustisch. Diese
komplexe Simultaneität findet sich in vielen meiner Stücke
wieder, in der Idee unterschiedlich verlaufender Zeitebenen –
innerhalb einer Partitur mit Standardmitteln notiert und so durch
den Dirigenten steuerbar.“
Komponieren hat für Tobias PM Schneid etwas mit Lebensauffassung
zu tun – und mit Emotion. Nicht ohne Grund greift Schneid
das Rihmsche Diktum von „Ich will bewegen und ich will bewegt
werden“ auf, indem er sagt: „Ich will berühren
und ich will berührt werden.“ Das Neue in der Musik findet
sich bei Schneid nicht im Material, es entsteht im Umgang des Komponisten
mit diesem. Ein gutes Beispiel hierfür ist das eingangs erwähnte
„umbrellas & sewing machines“ (UA Mai 2000), dessen
Titel sich aus einem Schauspiel André Bretons ableitet. Das
musikalische Material sammelte Schneid innerhalb von 39 Tagen, täglich
von 10 bis 13 Uhr jeden musikalischen Einfall notierend: darunter
Jazzphrasen, Klänge, Melodien, harmonische Progressionen. Das
so aus dem Unterbewusstsein automatisiert hervorgehobene Material
unterwarf er anschließend dem Kompositionsprozess, in dessen
Verlauf er sich die Aufgabe stellte nach Verbindungen zwischen den
musikalischen Welten zu suchen. Es entstand eine Textur, die von
starken Kontrasten lebt, mal getrieben und gehetzt, dann unvermittelt
still, introvertiert. „Es ist Hochgeschwindigkeitsmusik und
dann kommt unvermittelt ein Schlag, ein Stopp und es geht in eine
Musik über, die genau das Gegenteil ist. Extrem langsame Musik.
So läuft auch unser Leben ab.“
Das Leben stand auch Pate bei Schneids einzigem Musiktheaterstück
„Swin Swin“(UA 1997, Saarbrücken) nach einem Libretto
von Matthias Kaiser über die authentische Geschichte zweier
Zwillingsschwestern, die ein völlig von der Außenwelt
abgeschlossenes Leben führen und sich in einer eigenen Sprache
unterhalten. Den Klang dieser Fantasiesprache macht Schneid lebendig,
vor allem aber den Kosmos ihrer seelischen Welt. Auch hier arbeitet
er mit unterschiedlichen Zeitebenen. Handlung, Sprache und Musik
sind kunstvoll verschränkt und bleiben doch eigenständig.
Geboren 1963 in Rehau/Hof, erhielt Schneid privaten Klavierunterricht
und erarbeitete sich gemeinsam mit seiner Schwester ein umfangreiches
vierhändiges Repertoire. Von 1985 bis 1992 studierte Tobias
PM Schneid Komposition bei Bertold Hummel und Heinz Winbeck an der
Musikhochschule in Würzburg; 1994 schloss er sein Studium dort
mit dem Meisterklassendiplom ab. Heute lebt Tobias PM Schneid mit
seiner Familie in Neuburg/Donau und ist neben seiner Kompositionstätigkeit
ein Dozent verschiedener Kurse für Komposition und Analyse.
Seit 1997 lehrt er Tonsatz am Konservatorium beziehungsweise der
Musikhochschule Würzburg. Tobias PM Schneids musikalisches
Schaffen wurde mit zahlreichen Preisen bedacht. Er war Preisträger
des WDR-Kompositionswettbewerbs „Forum junger Komponisten
1989“, beim von Claudio Abbado initiierten 1. Wiener Kompositionswettbewerb
1990 wurde ihm durch die prominent besetzte Jury (Berio, Ligeti,
Rihm und anderen) der erste Preis zuerkannt; im Jahre 1995 war Schneid
einziger Preisträger des 1. Internationalen Angelo Commneno
Kompositionswettbewerbs in Rom und in den Jahren 1990 und 1994 gewann
er den Kompositions- und Publikumspreis der Sommerlichen Musiktage
Hitzacker.
Nach mehrfachen Stipendienaufenthalten in Paris wurde Schneid im
Jahre 1996 zum „composer in residence“ der Universität
Manchester ernannt. Aus dieser Zeit stammen wichtige Einflüsse
durch intensive Auseinandersetzung mit zeitgenössischer englischer
Musik und durch den Austausch mit bedeutenden britischen Komponisten
und Musikern. Schneid sucht das Neue in der Musik an einem unerwarteten
Ort: im Vorhandenen. Und er wird fündig. Zu seinen wichtigen
Einflüssen zählt er nicht nur Franz Schubert, Gustav Mahler,
Maurice Ravel, B.A. Zimmermann, Luciano Berio und György Ligeti,
sondern auch Miles Davis, Thelonious Monk und Jimi Hendrix. Oder
John Coltrane, von dem er sich zu „Vertical Horizon I“
inspirieren ließ, einem Stück für Klarinette solo
(1997/1999), das erste einer Reihe von Werken für Soloinstrumente.
Schneid bringt hier die Vertikale, also den Klang in einen zeitlichen
Verlauf. Aberwitzig schnell gespielte Skalen und Arpeggien sind
gedanklich den Soundclustern Coltranes verwandt. Schnelle, repetitive
Sprünge zwischen den Registern schaffen eine latente Zweistimmigkeit.
Ein Virtuosenstück voller klanglicher Intensität, inspiriert
gespielt von Carl Rosman auf der neuen Wergo-CD. Weitere Solowerke
von Schneid sind „Cathedral I-III a Farewell to Bertold Hummel“
und „What a wonderful world, Mr. Armstrong?“ (beide
für Klavier) sowie für Flöte „Vertical Horizon
II“.
Virtuosität und Klangwirkung sind beides Komponenten, die
auch in dem Stück gefragt sind, an dem er gerade arbeitet:
Der ARD Musikwettbewerb beauftragte Schneid für das Jahr 2007
ein Pflichtstück für das Fach Klaviertrio zu komponieren.
Weitere aktuelle Nachrichten: Kürzlich wählte die nationale
Jury der Gesellschaft für Neue Musik (GNM) die Stücke
„prelude I: harmonic encounters“ und „weird scenes
inside the mirror cages I“, zusammengefasst unter dem Titel
„Two Movements“, als offiziellen Beitrag zu den Weltmusiktagen
2006 in Stuttgart aus. Und noch ein Auftrag liegt auf dem Schreibtisch:
Ein Cellokonzert fürs Bundesjugendorchester und den Solisten
Alban Gerhardt, das nächsten Sommer während des young
euro classic-Festivals in Berlin uraufgeführt wird.
Gegen Etiketten wehrt Schneid sich vehement: Patchworkmusik, tonale
Musik, Crossover, Musik über Musik, Programmmusik – in
keine dieser Schubladen will er sich stecken lassen. Dennoch legt
der Komponist freimütig offen, dass seine Werktitel kleine,
abgeschlossene, rätselhafte Geschichten sind, die biographisches
Material enthalten. „Wenn jemand einen Titel hört wie,
,The Lonely Monk’s reflections…‘: Vielleicht weiß
er dann, dass Thelonious Monk wegen seiner Alleinstellung auch ‚The
Lonely Monk‘ genannt wurde. Doch auch ohne Monk zu kennen,
hat der Titel eine wörtliche Bedeutung: Reflektionen eines
einsamem Mönchs.“ Assoziationsbereiche werden geöffnet:
„Ich höre den ,Lonely Monk‘ und bin enttäuscht,
wenn keine Thelonious-Monk-Zitate auftauchen, aber vielleicht merke
ich plötzlich, dass gerade in diesem Stück die Quinte
wichtig ist, dass bestimmte Jazzanleihen wichtig sind…“
Schneid stellte dieses von Monks sperriger Pianistik durchpulstes
und in Monks Melancholie getränkte Stück an den Schluss
der neuen CD. Die Einsamkeit von Thelonious Monk, im künstlerischen
wie im menschlichen, ist für Schneid eine Metapher für
das Dasein. „Diese existenzielle Grundbefindlichkeit taucht
in den Werktiteln und in meiner Musik immer wieder auf.“