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nmz-archiv
nmz 2005/11 | Seite 46
54. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Das gesellschaftskritische Potenzial wird zum Fest der Sinne
Die Alte Oper Frankfurt huldigt dem Komponisten Helmut Lachenmann
mit Konzerten und einem Symposium
Die Alte Oper Frankfurt hatte ihr „Auf-takt“-Festival
2005 dem Komponisten Helmut Lachenmann gewidmet. Für das im
Mittelpunkt des Festivals stehende Porträt des Komponisten
hatte Hans-Klaus Jungheinrich für das mittlerweile zur Tradition
gewordene Symposium ausgewiesene Kenner der zeitgenössischen
Musik eingeladen. In Referaten und Diskussionsbeiträgen wurden
neue und klar formulierte Aspekte des Schaffens von Helmut Lachenmann
im Deutungsringen um sein Werk zur Sprache gebracht.
Helmut
Lachenmann und seine zehn Exegeten (von links oben): Hartmut
Lück, Hans-Klaus Jungheinrich, Jan Müller-Wieland,
Reinhart Meyer-Kalkus, Martin Kaltenecker, Jürg Stenzl,
Jörn Peter Hiekel. Unten (v.li.): Ulrich Mosch, Max
Nyffeler, Helmut Lachenmann und Gerhard R. Koch. Foto: Charlotte
Oswald
Nach wie vor ein großer Vorteil dieser Veranstaltung ist
die Mischung aus ordentlich bestallten Musikwissenschaftlern und
unmittelbar im Geschehen des Musiklebens tätigen Publizisten.
Letztere sind auf unmittelbare Verständlichkeit ihrer Sprache
angewiesen. Mitunter fühlte man sich an Wittgensteins hier
durchaus angebrachte Mahnung erinnert, dass das, was sich überhaupt
sagen lässt, sich klar sagen lassen müsste. Mancher Redner
las als personifizierte Publikation sein Manuskript herunter, als
säße niemand im Raum.
Klar war Hartmut Lücks freihändige Darstellung von Helmut
Lachenmanns Sprachbehandlung in ganz unterschiedlichen Werken, in
denen er teilweise selbst mitwirkt, so etwa in der Komposition „Zwei
Gefühle“ nach einem Text von Leonardo. Das Sprechen des
Textes sei schon eine Anverwandlung und die Herausfilterung bestimmter
Phoneme daraus ein weiteres ästhetisch-kompositorisches Merkmal
von Lachenmanns Zugriff darauf. Es seien gerade die sinnlichen Vokale,
die auf ihren klanglichen Gehalt hin abgefragt würden. Gedehnte
M- und N-Laute etwa, oder immer wieder das gerollte „R“.
Der nicht minder versierte Lachenmann-Experte Max Nyffeler konnte
daran mit seinen Reflexionen über die Transzendenz in Lachenmanns
Musik direkt anschließen. Das unmittelbare Machen selbst sei
bereits auch ihre Transzendenz, hob Nyffeler hervor und erntete
damit das kritische Lob des Komponisten, der sich auf eine Transzendenz
ohne Hermeneutik berief, also auf ein Verstehen seiner Musik ohne
Textauslegung von der Seite. Auch das ein Fazit des ersten von zwei
Tagen: Lachenmanns Musik ist immer politisch – ein alter Hut
–, will vielleicht als Musik ganz unmittelbar und eben zunächst
nicht bedeutungsgeladen gehört werden.
Das mag der größte verbindende Unterschied auch zu
Luigi Nono sein. Der Kritiker Gerhard R. Koch analysierte das Verhältnis
von Lachenmann zu seinem Lehrer Luigi Nono sehr einfühlsam.
Lachenmann selbst antwortete darauf sehr persönlich –
ein gutes Gesprächsklima. Dass der nur elf Jahre ältere
Nono eben keine klassische Lehrerfigur war und das Verhältnis
Lachenmann-Nono in der Tat erheblichen Schwankungen ausgesetzt war,
bestätigte Lachenmann umgehend.
So war Italien für Lachenmann während seiner Zeit beim
Venezianer um 1960 eben nicht das in deutscher Bildungstradition
stehende Land, wo die Zitronen blühen, sondern die Potenzierung
seines eher bildlosen Stuttgarter Protestantismus, der sich dann
in epitaph- und requiemartigen Kompositionen später ausdrückte.
Werkgeschichtlich sei dies, so Koch, die unmittelbar sicht- und
hörbare Gemeinsamkeit der beiden großen Komponisten.
Lachenmann-Nono also ein schwieriges Verhältnis mit Wirkungsgeschichte.
Fazit Lachenmann: „Bei mir musste er sich immer herablassen
zu dem entlaufenen Pfarrerssohn“.
Ein Konzert mit Aha-Effekt bot das Ensemble Modern im Rahmen des
Auftakt-Festivals mit Werken von Luigi Nono und seinen beiden ehemaligen
Meisterschülern Nicolaus A. Huber und Helmut Lachenmann. Mit
dieser scheinbar objektiven Feststellung beginnen die Deutungsprobleme
– zum Glück, denn große Kunst war noch nie ohne
ihre darin thematisierten Widersprüche zu haben. Die Frage
bleibt meist offen, ob man „etwas geworden“ ist, weil
man dessen Schüler war, oder weil man sich vom Lehrer abgesetzt
hat. In diesem Spannungsfeld von Selbstständigkeit und Orientierungssuche
mögen sich Helmut Lachenmann und Nicolaus A. Huber zeitlich
nacheinander befunden haben, als sie von Nono seinerzeit gewissermaßen
als Privatschüler akzeptiert wurden.
Tatsächlich könnte ihre Klangsprache bei partikularer
Ähnlichkeit nicht unterschiedlicher sein. Zwar thematisieren
beide ihre jeweils eigene, kompositorisch fruchtbar gemachte Geräuschwelt.
Während aber Huber in seinen vor gut 20 Jahren komponierten
„Sechs Bagatellen“ für Kammerensemble und Tonband
dem klanglichen Ereignis durch ein weit verzweigtes Zitatgeäst
mit Versatzstücken aus Klassik und Unterhaltung erst einmal
auf Umwegen Odem einhauchen muss, verblüfft und erfreut der
große Umregistrator unserer Instrumentalsprache, Helmut Lachenmann,
erneut mit einer im Gegenteil dazu wenig verkopften, unmittelbar
aufnehmbaren und streckenweise vom unterschwellig wirksamen Beat
seiner Perforationen nach vorn getriebenen „musique concrète
instrumentale“.
So geriet die deutsche Erstaufführung von „Concertini“
als „Musik für Ensemble“ nach der Weltpremiere
in Luzern (nmz 10/05,
Seite 41) zu einem Fest der Sinne unter Berücksichtigung
des von Nono mehr als inspirierten, von Huber und Lachenmann für
ihre Werke gemeinsam beanspruchten gesellschaftskritischen Potenzials.