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nmz-archiv
nmz 2005/11 | Seite 9
54. Jahrgang | November
Stückwerk
Expressives Klangtheater, in dem jede Note zählt
Willem Mengelbergs Aufnahme der „Matthäus-Passion“
aus dem Jahr 1939 · Von Uwe Schweikert
Der Konzertmitschnitt der „Matthäus-Passion“
vom 2. April 1939 aus dem Amsterdamer Concertgebouw unter Willem
Mengelberg gehört zu den bedeutendsten Dokumenten der Bach-Interpretation
überhaupt. Eine klanglich restaurierte Neuausgabe auf drei
CDs, die zusätzliche weitere Bachaufnahmen Mengelbergs enthält,
erschien 2004 bei Naxos Historical (8. 110880-82). Mit dieser Aufzeichnung
der „Matthäus-Passion“ greifen wir eine noch ganz
vom Geist des ausgehenden 19. Jahrhunderts geprägte Darstellung,
die beim ersten Hören gewiss befremden wird.
In seiner grundstürzenden historisierenden Aufnahme aus dem
Jahre 1970 hat Nikolaus Harnoncourt den Chor der „Matthäus-Passion“
mit insgesamt etwa 40 Sängern besetzt. Jüngere Einspielungen
wie die von Ton Koopman oder seinem japanischen Schüler Masaaki
Suzuki bieten 16 bis 24 Choristen auf. Joshua Rifkins und Andrew
Parrotts Quellenstudien aufgrund des überlieferten originalen
Stimmenmaterials der Wiederaufführung aus dem Jahre 1736 machen
es zur unwiderleglichen Gewissheit, dass Bach selbst mit nicht mehr
als acht Choristen ausgekommen ist, die gleichzeitig auch die Arien
ausführten. Dazu kamen noch der Soprano in ripieno sowie drei
Sänger für die neun kleinen Solorollen. Entsprechend gering
waren auch die Orchesterkräfte – 1736, einschließlich
der beiden Continuo-Orgeln, insgesamt 22 Mitwirkende.
Besetzungsfragen bei Bach sind keine bloß akademische Beschäftigung,
sondern von entscheidendem Einfluss auf Tempo und Charakter der
Musik. So führt etwa das schnelle Tempo und der dynamische
Akzent des Schlags auf den Taktschwerpunkten im Falle des Eingangschores
der „Matthäus-Passion“ bei Harnoncourt zu einem
geradezu tänzerisch beschwingten, jedenfalls schnörkellos
bewegten Gestus der Musik.
Der Geist Mahlers
Von all diesen Erkenntnissen der neueren Aufführungspraxis
muss man sich bei Willem Mengelberg verabschieden. Blendet man die
heutigen Erwartungen aus und lässt sich voraussetzungslos auf
das Werk ein, wie es uns hier entgegentritt, so geht eine aus Irritation
und Faszination gemischte Bewunderung von dieser Aufnahme aus. Der
1871 geborene Mengelberg war ein halbes Jahrhundert lang Chefdirigent
des Amsterdamer Concertgebouw Orchesters, ehe er 1945 wegen seiner
Kollaboration mit den deutschen Besatzern aus diesem Amt entfernt
wurde und Dirigierverbot erhielt. In jungen Jahren ist Mengelberg
vor allem für Gustav Mahler eingetreten, zu dessen internationaler
Durchsetzung er entscheidend beitrug.
„Nicht
zu langsam“: Mengelbergs Dirigierpartitur der „Matthäus-Passion“
mit handschriftlichen Eintragungen.
Abbildung aus dem Ausstellungskatalog „Willem Mengelberg
(1871–1951)“, Den Haag, Gemeentemuseum 1995
Der Geist Mahlers prägt auch seine Auffassung von Bachs „Matthäus-Passion“,
die er seit 1899 alljährlich in der Karwoche aufführte.
Orchester und Chor sind groß, ja massiv besetzt. Getragene,
kaum je annähernd konstante Tempi, agogische Rückungen,
heftige Rubati und stilistische Eigenheiten wie der durchgehende
Gebrauch des Portamento bei Instrumentalisten und Sängern sowie
die breiten Allargandi am Ende jeder Nummer weisen ins 19. Jahrhundert
zurück. Hinzu kommen (wie bis weit in die 1970er-Jahre üblich)
Kürzungen – mehrere Arien, darunter sämtliche Bassarien,
entfallen und der zweite Teil ist im Sinne einer dramatischen Zuspitzung
des biblischen Geschehens stark gerafft. Und dennoch ist das Ganze
höchst eindrucksvoll, nicht zuletzt wegen der starken, an die
pietistischen Strömungen der Zeit erinnernden spirituellen
Intensität, die die Aufführung erfüllt. Mit opernhafter
Theatralik jedenfalls, wie oft zu lesen ist, hat Mengelbergs „Theater
des Klanggeschehens“ (Martin Elste) nichts zu tun.
Das wird gleich im großen Einleitungschor deutlich. Nicht
nur die zeitliche Dimension – fast 11 Minuten gegenüber
7,5 Minuten bei Harnoncourt! – macht den Unterschied deutlich.
Was bei Harnoncourt fast freudig bewegt klingt, ist in Mengelbergs
Darstellung eine einzige große Klage: „Kommt, ihr Töchter,
helft mir klagen“. Aus dem breit und schwer dahinströmenden
musikalischen Fluss werden immer wieder einzelne Worte, einzelne
Phrasen, ja einzelne Takte wie mit dem Zoom hervorgehoben. Und es
gibt kein durchgehendes Tempo. Dabei waltet aber nicht Willkür,
sondern eine bis ins letzte strikt kontrollierte temporale Rhetorik
– etwa wenn Mengelberg die bald fragende, bald antwortende
Passage der beiden Chöre „Seht – Wohin? –
Wohin? – Wohin? – seht – auf unsre Schuld“
durch eine deutlich wahrnehmbare Verbreiterung beziehungsweise Beschleunigung
des Tempos von Takt zu Takt dergestalt modelliert, dass sich das
Wort „Schuld“ als zentrale Aussage ins Bewusstsein des
Hörers eingräbt.
Dass es sich dabei um bewussten Ausdruckswillen, nicht um gedankenlos
perpetuierte Tradition handelt, beweisen andere Bach-Aufnahmen Mengelbergs
aus derselben Zeit – etwa des auf der Naxos-CD enthaltenen
Konzerts für zwei Violinen, das sich in Agogik wie Tempo kaum
von moderneren Einspielungen unterscheidet. Sachlichkeit und metronomisch
genaue Tempi sind Charakteristika nicht erst der heutigen historischen
Aufführungspraxis, sondern schon der neusachlichen Wende der
Bach-Interpretation seit den 1920er-Jahren.
Aber auch der Verdacht, dass die extremen dynamischen wie agogischen
Rückungen Ausfluss einer gefühlsmäßigen Subjektivität
entspringen, greift nicht. Mengelberg überlässt sich nicht
dem Fluss der Musik, sondern er gestaltet ihn in höchster Bewusstheit.
Jede Note zählt. Und jeder Ton ist durchartikuliert. Das zeigen
auf eindrucksvolle Weise seine überlieferten Dirigierpartituren.
So wie die hier abgebildeten ersten drei Takte hat er Seite für
Seite der „Matthäus-Passion“ durchgearbeitet und
den Notentext mit Bezeichnungen versehen. „Der Interpret muss
dem Schöpfer helfen“, war sein künstlerisches Credo.
„Genauigkeit“ – so der Berliner Musikkritiker
Max Marschalk 1920 – „ist seine Grundforderung, und
es ist erstaunlich […], wie weit es ihm gelingt, diese Forderung
durchzusetzen. Ist die Genauigkeit erreicht, so geht es an die seelische
Belebung. Er erreicht es, dass keine Melodie, kein Melodiefragment
gleichgültig gebracht wird, ausdruckslos, ohne das von ihm
gewollte charakteristische Gepräge. Sein Wissen ist das Ergebnis
einer außerordentlich subtilen Vorarbeit, wie sie in diesem
Umfange und in diesem Ausmaße wohl nur wenige Dirigenten zu
leisten für nötig halten.“ Keine Note kommt beiläufig
oder bleibt sich selbst überlassen. Die Konsequenz: jeder Ton
wird agogisch modelliert. Das Ergebnis: jeder Ton atmet.
Verinnerlichung
Mengelberg gelingt es in seiner Interpretation der „Matthäus-Passion“
auf höchst spannungsvolle Weise, die Zeit und den Atem der
Musik auszuweiten. Die einzelnen Nummern folgen nicht dem motorischen
Ablauf eines strikt eingehaltenen Zeitmaßes, so dass ihr Verlauf
– dies der Sinn von Mengelbergs agogisch flexibler Temporegelung
– nicht vorhersehbar, sondern immer überraschend wirkt.
Prozessuale Entwicklung tritt an die Stelle motorischer Statik,
sakrale Kontemplation an die Stelle nüchterner Objektivität.
Dieser Zug macht sich am stärksten bei den Chorälen bemerkbar,
die manchmal nicht vom Fleck kommen wollen, andererseits aber dadurch
mit einer fast beklemmenden Kraft der Reflexion aufgeladen sind.
Das sind gewiss die befremdlichsten Passagen von Mengelbergs Passions-Darstellung.
Über die stilistischen Grenzpfähle der historisierenden
Aufführungspraxis hinweg erklingen Bachs Choräle heute
in zügigem Tempo, ohne größere Binnenzäsuren
und erst recht ohne Schlussritardandi. Mengelberg schlägt auch
hier keine durchgehende Bewegung an, sondern nimmt extrem breite,
meist doppelt so langsame Zeitmaße als heute üblich,
die er überdies durch Verzögerungen innerhalb von Rubati,
Phrasierungen innerhalb von Phrasierungen und dynamische Schattierungen
oft von Takt zu Takt plastisch gestaltet. Das manieristische Chiaroscuro
des Klangs führt zu einer Verinnerlichung von überirdischer
Schönheit.
Ähnliches wie für die Choräle gilt für die
Tempogestaltung der Rezitative, insbesondere für die von Willem
Ravelli mit großer Zurückhaltung, ja Resignation, zugleich
aber mit höchster Sensibilität vorgetragenen Worte Christi,
die in vielen modernen Aufführungen eher nebensächlich
erscheinen, hier aber ganz im Zentrum stehen – Ravellis leicht
nasale Tongebung nimmt den verkündigenden Gestus protestantischer
Prediger auf, ohne penetrant, gar deplaziert zu wirken. Mengelbergs
prägender Hand ordnen sich aber auch alle übrigen Mitwirkenden
unter: das Amsterdamer Concertgebouw-Orchester, der Amsterdamer
Toonkunst-Chor und die durchweg hervorragenden Solisten, von denen
der Evangelist Karl Erbs mit seinem transsexuellen, fast knabenhaften
Timbre die größte Ausstrahlungskraft besitzt. Auch die
Sopranistin Jo Vincent und die damals schon 58-jährige Altistin
Ilona Durigo sind von einer stimmlichen wie musikalischen Präsenz,
die stilistische Manierismen unerheblich werden lässt. Nicht
zuletzt gelingt es Mengelberg, Instrumentalisten wie Sänger
– mit denen er zum Teil schon Jahrzehnte lang an diesem Werk
zusammengearbeitet hatte –, zu einer Einheit zu verschmelzen.
Eine der eindrucksvollsten Passagen des technisch durchaus akzeptablen
Mitschnitts ist der Bericht des Evangelisten vom Tod Jesu. Auch
hier greifen Mengelberg und Karl Erb zu höchst eindrucksvollen
Mitteln der verbalen Deklamation im Sinne eines expressiven Klangtheaters.
„Jesus schrie abermal laut und verschied“ – Erb
hebt das auf einen Hochton gesetzte Wort „laut“ aus
dem Kontext heraus und nimmt die Stimme bei „verschied“
fast bis zur Unhörbarkeit zurück. Den Bericht über
das Erdbeben nach dem Tod Jesu – bei dem Mengelberg die von
Mendelssohn hinzukomponierten Streichertremoli verwendet –
gestaltet Erb mit höchster Erregung. „Wie uns Mengelberg“
– so Martin Elste in seiner Geschichte der Bachinterpretation
– „mit den hinzugefügten Streicherakkorden das
Zerreißen des Vorhangs musikalisch vor Augen und Ohren führt
und ästhetisch überhöht verklanglicht, ist allein
schon hörenswert; wie er dann aber seinen Evangelisten dazu
bringt, mit der Stimme das ‚Zerreißen der Felsen’
durch die vorangehende metaphorische Anspannung der Stimme wie ein
gespannter Bogen in Klang umzuwandeln, ist schlicht überwältigend.“
Zwischen den beiden Rezitativen steht der Choral „Wenn ich
einmal soll scheiden“ – auch er extrem verhalten in
Tempo wie Dynamik, mit subtilster sprachlicher Pointierung (etwa
im Nachdruck auf dem Adverb „aller-bängsten“);
kein Moment distanzierten Zurücktretens wie in modernen Darstellungen
des Werks, sondern vielmehr einer der höchsten Betroffenheit,
die ein beklemmendes Eingedenken des Todes evoziert.
An Mengelbergs Aufnahme von Bachs „Matthäus-Passion“
werden alle festgefügten Vorstellungen unserer heutigen Musizierhaltung
zuschanden. „Natürlich“ – so der Geiger Andrew
Manze, einer der führenden Vertreter der historisierenden Musizierpraxis,
in einem Interview – „würde das heute niemand mehr
so machen, aber trotzdem ist meiner Meinung nach niemand der Seele
dieses Stückes so nahe gekommen – ganz ohne historische
Aufführungspraxis.“